DER MANN, DER AM 4.2.1976 AUS DEM FENSTER SPRANG

(+ Knastlesen 4) Zu meiner wichtigsten Permanenzschulung gehört Bayern2Radio, das wird man ja wohl auch noch einmal sagen dürfen. Meine Lieblingssendungen sind „Jazz&Politik“ und „Das Kalenderblatt“; natürlich auch, was die Musikschulung betrifft, Karl Bruckmaiers Nachtausgabe, die kürzlich auf Samstag 23h verlegt wurde, und der Zündfunk, bei welchem ich allerdings nicht selten mein Radio angifte, „jetzt hört´s doch bitte endlich wieder einmal auf mit eurem komischen Gequassel, welches ich nicht einmal vorvorgestern lustig gefunden hätte.“ Was nicht heißt, ich wäre einer, der den ganzen Tag das Gras wachsen hört.

Als gestern das Kalenderblatt anfing, hörte ich ausm Irgendwo gleich eine Stimme, die „freeze!“ sagte. Und das machte ich.

„Was ist das denn jetzt“, murmelte ich.

Aber das Kalenderblatt widmet sich eben nicht nur mehr oder weniger bedeutenden Toten oder historischen Begebenheiten, Erfindungen etc., sondern manchmal auch Großereignissen der jüngeren Vergangenheit.

„Er galt mal als der cleverste Ganove im ganzen Land“, sagte eine gefährlich angenehme Frauenstimme. Ich übertreibe wirklich nicht, hören Sie selbst: http://suche.br-online.de/search?entqr=0&output=xml_no_dtd&client=downloadpodcast_frontend&ud=1&oe=UTF-8&ie=UTF-8&proxystylesheet=downloadpodcast_frontend&site=downloadpodcast_collection&q=ludwig+lugmeier&x=11&y=6

Später ging ich in die JVA zu meiner wöchentlichen Literaturvorlesung. Das Kalenderblatt hatte mir gesagt, welches Buch wir heute durchnehmen sollten:

 Nach einer kurzen Einleitung begann ich auf S. 281 vorzulesen: „Am Morgen des 11. November 1975, als der Prozeß begann, war ich aufgeregt. In der vorangegangenen Nacht hatte ich geträumt, daß ich fliehen würde … “

Ich hatte ein aufmerksames Publikum, von dem ich hoffte, dass es den folgenden Text für immer in seinen Gehirnen speichern würde. Mehrmals betonte ich, dass sie das, was sie da hörten, auf keinen Fall zuhause oder sonstwo nachmachen sollten.

Bei dem Jungen X. war mir bald klar, dass ihn das Buch nicht nur literarisch begeisterte. Der kleine Bandit hatte es trotz seiner jungen Jahre geschafft, sich sowas wie eine gute alte Ganovenehre zuzulegen, weiß der Teufel wie das zugegangen ist, das kann man sich ja nicht im nächsten Supermarkt kaufen, vielleicht hat er nur zu viele Scorsese- und Ferrara-Filme gesehen oder seinem Opa aufmerksam zugehört. Sein Spezialwissen über eine gewisse Sache haute mich um; als hätte er das studiert, sich Bücher in der Staatsbibliothek bestellt und diese exerzerpiert, nachdem ihm klar geworden war, dass er von Wikipedia nur bestenfalls Halbwissen bekommt. Er meinte, so vier Jahre Knast wären sicher mal eine nützliche Erfahrung. Und dabei hatte er – wie gesagt altmodische Schule – auch noch ein Herz. Leider auch ein spürbar großes aggressives Potential und eine Portion Naivität, was ihm früher oder später wohl zu seinen vier Jahren verhelfen wird.

Eine Menge interessanter Themen spülte das Buch heran: Auswanderungswünsche (Schweiz, Tschechien); „ich habe sogar drei gültige Pässe, das freut die Bullen immer besonders“; „ich gehe jeden Sonntag mit meiner Freundin in die Kirche, aber die Bibel lese ich nie, weil ich verstehe die Sprache nicht“; nichts Neues: keiner kennt die Sex Pistols, und wie immer denke ich einen Moment später: ja, wieso auch, wenn man 1996 geboren wurde?; in Tschechien sei die Herstellung von Chrystal legal – glaubte ich nicht – dann sollte ich mich mal genauer informieren…

Zehn Minuten, nachdem ich angefangen hatte, kam das einzige Mädchen dazu. Sie hatte ein Gespräch mit der Sozialbetreuerin gehabt und sie weinte und ich sah, dass kein Wort an sie herankommen konnte. Nach einer halben Stunde taute sie auf. Ihre Tochter kommt demnächst zur Ersten Hl. Kommunion. Ich habe vergessen, sie zu fragen, von welchem Krankenhaus sie damals Hilfe bekam.

Als ich dann durch vier gesicherte Türen endlich wieder abhauen konnte und vor der letzten endlich eine Zigarette anzünden konnte, erinnerte ich mich, dass ich einmal dieses Gedicht geschrieben und in meinem Buch „Nachmittag eines Reporters“ veröffentlicht hatte:

GEFÄHRLICHES LEBEN   für A.N. (´95)

Als das Glück / eines Tages auf meiner Seite war / lernte ich den Schriftsteller / Ludwig Lugmeier / Herkunft Kochel am See bei Penzberg / wo der Hund begraben ist / heute wohnhaft woanders / kennen und wusste aber nur grob / dass er auch einmal / ein erfolgreicher Dieb gewesen ist.

Nach ein paar Bier / traute ich mich / die Frage endlich zu stellen. / Wie kommts eigentlich / dass du zwölf Jahre / und ein halbes / so gut überstanden hast? / Er zuckte nur mit den Schultern. / Ich hätte mich am liebsten / so eine blöde Frage / so saudumm.

Später hat er / in einem Interview was gesagt / das mir sehr gut gefallen hat / dass es genauso gefährlich ist / einen Roman zu schreiben / wie einen Millionenraub durchzuführen. / Ich kann das nicht beurteilen. / Aber das klingt so gut / das muss die Wahrheit sein.

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