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DAS OPTIMAL SOMMERFEST

ist wie jedes Jahr das optimale Sommerfest von Münchens Optimal Plattenladen. Vom 25.-27. Juli „20% Rabatt auf alle Tonträger mit Plattenflohmarkt vor unserem Laden und Konzerte“ mit diesen toptimalen Bands:

Do 25.07.  SU YONO (20:00 Uhr)
Fr 26.07, WILDES (20:00 Uhr)

Sa 27.07, COSMICA BANDIDA (19:00 Uhr)

Kolosseumstr. 6 * Getränke+Verpflegung sowieso * optimal-records.de



PEN-BERLIN 37 GESPRÄCHE ÜBER DEMOKRATIE UND MEINUNGSFREIHEIT

„Unter dem Titel »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen – Gespräche über Demokratie und Meinungsfreiheit« organisiert PEN Berlin im Vorfeld der Landtagswahlen eine Gesprächsreihe in Sachsen, Thüringen und Brandenburg: 37 Veranstaltungen, von Annaberg bis Perleberg, von Ilmenau bis Zwickau.“

<<<programm hier: https://penberlin.de/landtagswahlen-im-osten-grosse-gespraechsreihe-des-pen-berlin/

„Der Einsatz für die Meinungsfreiheit steht im Zentrum der internationalen Autor:innenvereinigung PEN. Solidarität mit Schreibenden, die nur deshalb verfolgt, bedroht und verhaftet werden, weil sie von ihrem Recht auf die Freiheit des Wortes und der Kunst Gebrauch gemacht haben, ist auch Kernthema des im Sommer 2022 gegründeten PEN Berlin.

Auch in Deutschland ist es nach Wahrnehmung vieler um die Meinungsfreiheit nicht gut bestellt. Einerseits waren die Mittel und Möglichkeiten, Kritik zu formulieren und sich Gehör zu verschaffen, noch nie so groß wie heute. Zugleich wächst die Zahl derer, die sich eingeschränkt fühlen.

Waren im Jahr 1990 noch 78 Prozent der Deutschen der Ansicht, man könne hierzulande seine Ansichten frei äußern, und nur 16 Prozent Vorsicht für angebracht hielten, haben sich die beiden Werte seither kontinuierlich angenähert. Im Jahr 2023 ermittelte das Allensbach-Institut erstmals eine größere Zustimmung dafür, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt sei (44 Prozent), als für das Gegenteil, die Meinungsfreiheit sei gegeben (40 Prozent).

Wer genau hinsieht, wird feststellen, dass manche, die sich heute über »enge Meinungskorridore«, »Denk- und Sprechverbote« und »Cancel Culture« beklagen, morgen selber Grenzen des Zulässigen zu ziehen versuchen – je nachdem, worum es gerade geht.

Meinungsfreiheit bedeutet nicht, vom Widerspruch befreit zu sein. Aber bereits das Gefühl eingeschränkter Meinungsfreiheit erschwert den gesellschaftlichen Dialog. Denn wer glaubt, nicht frei sprechen zu können, ist auch viel weniger bereit, seinem Gegenüber zuzuhören.

Hier will PEN Berlin mit dieser Veranstaltungsreihe ansetzen: »Wir sind davon überzeugt, dass Demokratie von Auseinandersetzung lebt. Daher suchen wir das Gespräch mit Menschen, die befürchten, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können«, sagt PEN-Berlin-Sprecherin Eva Menasse. »Wir wollen uns vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg nicht parteipolitisch einmischen, sondern zum echten, auch harten Gespräch ermuntern.«

PEN Berlin legt deshalb großen Wert auf die Beteiligung des Publikums. Die jeweils zwei Podiumsteilnehmer:innen und ein:e Moderator:in (namhafte Journalist:innen aus regionalen wie überregionalen Medien, Schriftsteller:innen, Publizist:innen, Kabarettist:innen) wollen mit den Menschen ins Gespräch kommen.

»Ganz ehrlich: Ein wenig unsicher waren wir schon, wie unsere Idee in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ankommen würde«, sagt PEN-Berlin-Sprecher Deniz Yücel. »In den vergangenen Wochen haben wir rund 50 Kultureinrichtungen – Theater, freie und kommunale Kulturzentren, Bibliotheken, Bürgerinitiativen etc. – als Kooperationspartner angefragt. Niemand fand unsere Idee schulmeisterlich, alle reagierten sehr aufgeschlossen. Daher sind wir zuversichtlich, dass die Idee keine so ganz schlechte ist.«

Zum Auftakt der Reihe am 5. August im »Weltecho« in Chemnitz diskutieren der Germanist und Publizist Dirk Oschmann und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, moderiert von der Publizistin Bettina Baltschev. Zum Abschluss am 19. September im Waschhaus Potsdam spricht die Schriftstellerin Monika Maron mit der Schriftstellerin und PEN-Berlin-Sprecherin Eva Menasse, moderiert vom Journalisten Jan Feddersen (taz). Wie bei allen Auftakt- und Abschlussveranstaltungen wird es ein kleines kulturelles Begleitprogramm geben, in Chemnitz mit dem Musiker PeterLicht, in Potsdam mit dem Comedian Sebastian23.

Einen Überblick über Mitwirkende, Termine und Veranstaltungsorte finden Sie auf unserer Webseite, zudem detaillierte Darstellungen mit Kurzbiographien der Beteiligten (Sachsen, Thüringen und Brandenburg).

Wir danken danken der Stiftung »Orte der deutschen Demokratiegeschichte«, dem Programm »Tolerantes Brandenburg« des Landes Brandenburg und »Denk bunt«, dem Thüringer Landesprogramm für »Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit« für die freundliche Unterstützung. Wir danken außerdem allen mitwirkenden Kultureinrichtungen und helfenden Stadtverwaltungen für ihre Aufgeschlossenheit und die gute Zusammenarbeit.

PEN Berlin – Wir stehen im Wort“



ETWAS ÜBER DIESE WÖLFE

diese nicht erst seit aktuellem Fußball berüchtigten „Grauen“ nämlich, hat Deniz Yücel genauer und ausführlicher als andere Journalist*innen geschrieben. Yücel (Jungle World-CoHerausgeber, PEN-Berlin-Sprecher, als Welt-Korrespondent aufgrund seiner Artikel ein Jahr ohne Anklage im türkischen Knast) hat seine Analyse am 7.7. komplett auf f-book veröffentlicht, deshalb auch hier in voller Länge (ohne die im Text gekennzeichneten Fotos), mit seinem Schlusswort hier zuerst als Einleitung:

„Aus alledem kann man Gründe für oder gegen ein Verbot der Grauen Wölfe und/oder ihrer Symbole ableiten. Aber vielleicht hilft dieser Exkurs zu verstehen, warum in der Türkei nicht allein Anhänger von AKP/MHP, sondern auch manche Außenstehende nicht Demirals Geste, sondern die Sanktionen der Uefa und die Kommentare deutscher Politiker für einen Skandal halten.“

„Aus gegebenem Anlass (#01) ein mittellanger Exkurs zu dem, was die „Grauen Wölfe“ sind – und dazu, was sie auch, kaum, weiterhin, nicht und inzwischen sind. (Wie gestern auf Twitter, aber ausführlicher. Und mit Bildern. Dafür die Fotos durchklicken.)
Zunächst eine Begriffsklärung: Die Bezeichnung „Grauen Wölfe“ ist eher im Ausland verbreitet, in der Türkei geläufiger ist die Eigenbezeichnung Ülkücü („Idealisten“), die sowohl allgemein die Bewegung bzw. Denkrichtung meinen kann als auch die „Idealistenvereine“, den Jugendverband der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Ich verwende hier Graue Wölfe und Ülkücü synonym.
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Die Grauen Wölfe sind rechtsextrem, aber als „Aggregatzustand der türkischen Rechten“ (Tanıl Bora) neben Konservativismus und Islamismus ein anerkannter Teil des politischen Establishments.
Tayyip Erdoğan regiert spätestens seit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 in einer informellen Koalition mit der MHP. Die MHP stellt keine Minister, hat aber zahlreiche Kader im Staatsapparat verteilt. In dieser informellen Koalition repräsentiert sich die MHP selbst, fungiert aber auch als Stellvertreter des alten Staatsapparats, mit dem sich Erdoğan versöhnt hat.
Allerdings ist dies nicht die erste Regierungsbeteiligung der MHP. In den späten 70ern bildeten der Konservative Süleyman Demirel und der Islamist Necmettin Erbakan zwei offizielle Koalitionsregierungen mit MHP-Chef Alparslan Türkeş (Regierungen der „Nationalistischen Front“, #02); Ende der 90er regierten der Sozialdemokrat Bülent Ecevit und der Konservativ-Liberale Mesut Yılmaz mit dem heutigen MHP-Chef Devlet Bahçeli (#03).
Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit im damals noch mächtigen Parlament verlor, zeigte sich selbst die linke/prokurdische HDP offen für eine Zusammenarbeit mit CHP und MHP (z.B. in Form einer geduldeten Minderheitsregierung). Nur Devlet Bahçeli lehnte strikt ab – der Beginn seiner Annäherung an Erdoğan.
Ein Teil derer, die sich heute als Graue Wölfe verstehen, ist in der MHP und mit Erdoğan verbündet. Ein anderer Teil der Ülkücü-Bewegung, die von Meral Akşener (#04) gegründete „Gute Partei“ etwa, steht in Opposition zu Erdoğan.
Nicht alle Ülkücü sind parteipolitisch organisiert, es gibt auch nicht-organisierte, eher popkulturell mit den „Grauen Wölfen“ verbundene Leute. Dies könnte auch beim Fußballer Merih Demiral der Fall sein, aber genaueres weiß ich über ihn leider nicht.
Jedenfalls zeigt nicht nur Erdoğan seit seinem Bündnis mit der MHP immer wieder mal den Wolfsgruß (#05). Auch von Politikern der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, darunter dem langjährigen Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu (#06) oder dem Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu (#07), sind entsprechende Auftritte dokumentiert. Oder von Mansur Yavaş (#08), Oberbürgermeister von Ankara, ebenfalls ein potenzieller Kandidat der CHP bei der Präsidentschaftswahl 2028 – und bis zu seinem Übertritt 2013 MHP-Kommunalpolitiker.
Bei Kılıçdaroğlu oder Imamoğlu kann man davon ausgehen, dass diese Gesten bloß dazu dienten, Sympathien von enttäuschten MHP-Anhängern zu gewinnen. Trotzdem mögen diese Bilder zeigen, dass der Wolfsgruß in der Türkei nicht überall verpönt ist – wie zur MHP, trotz ihrer gewalttätigen Geschichte und ihren Verbindungen zur organisierten Kriminalität, noch nie eine „Brandmauer“ (#09) existierte.
Auch auf einem DER ikonographischen Fotos des Gezi-Aufstands von 2013 ist ein Wolfsgruß zu sehen: Bei einem Polizeieinsatz auf dem Taksim-Platz fliehen zwei junge Männer Hand in Hand vor dem Tränengas. Einer trägt eine Fahne der prokurdischen BDP (später HDP, heute DEM), der andere eine türkische Fahne mit Atatürk-Porträt. Ein dritter streckt der Polizei trotzig den Wolfsgruß entgegen. In den Tagen von Gezi wurde dieses Bild von allen gefeiert: als Ausdruck für Vielfalt und Einheit der Protestbewegung (#10).
Nicht ganz so bekannt, aber in die gleiche Richtung: ein kurzes Video nach dem Sieg von Imamoğlu bei der wiederholten Kommunalwahl im Juni 2019: Hinten tanzen Leute zu einer bekannten kurdischen Musik, vorne posiert jemand mit Imamoğlu-Fahne und Wolfsgruß (#11).
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Nancy Faeser u.a. haben die Grauen Wölfe als „rassistisch“ bezeichnet; auch für die Uefa dürfte der Rassismus-Vorwurf eine wichtige Rolle bei der Strafe für Demiral gespielt haben.
Zweifelsohne haben die Grauen Wölfe eine rassistische Note. Reine völkische Nationalisten waren ihre ideologischen Vorläufer, die nicht zuletzt von Nazideutschland inspirierten „Turanisten“ der 40er Jahre (#12). Dieses ideologische Element ist nicht ganz verschwunden, aber heute innerhalb des Ülkücü-Spektrums marginal.
Vielmehr haben die Ülkücü eine Art radikale Version des kemalistischen Nationalismus entwickelt. Selbst in den eigenen Reihen werden Kurden (theoretisch sogar Armenier) akzeptiert, sofern sich diese im nationalstaatlichen Sinn als Türken begreifen.
Ähnlich kompliziert das Verhältnis zum politischen Islam: Die Turanisten waren Atheisten bzw. suchten Anleihen an der vorislamischen türkischen Mythologie. Für Nihal Atsız (#13), den wohl wichtigsten Vordenker der Bewegung, wäre „Islamkritiker“ eine allzu vorsichtige Beschreibung. Zu diesen Anleihen aus vorislamischen Mythologie gehört auch der Wolfsgruß, der allerdings erst in den 90ern populär wurde.
Bald nach der Gründung der MHP 1969, wandte sich Parteichef Türkeş vom reinen Turanismus ab und erklärte die „Türkisch-Islamische Synthese“ zur Parteiideologie, was zum Bruch mit Atsız führte. Türkeş wollte seine Doktrin von den „Neun Lichtstrahlen“ als genuin türkisches politische Lehre verstanden wissen, in Abgrenzung gegen alle „ausländischen“ Ideologien (Kommunismus, Liberalismus und Faschismus). In der Praxis das wichtigste ideologische Element blieb damals der Antikommunismus.
Heute haben die Anhänger der Ülkücü in Zentralanatolien und am Schwarzen Meer einen eher religiös-nationalistischen Lebensstil, in Thrazien, der Ägäis- und Mittelmeerküste eher einen säkular-nationalistischen.
Was diese disparaten Tendenzen vereint und den eigentlichen ideologischen Kern der Ülkücü ausmacht, ist eine mythische Verklärung des „starken“, autoritären (türkischen) Staates. Erst auf dieser Grundlage ist das Kunststück möglich, sich gleichermaßen auf das Osmanische Reich wie auf dessen Liquidator, Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, zu beziehen. Oder auf die osmanischen Kalifen und die vormuslimischen türkischen Stammeskulturen.
Fun Fact am Rande: MHP-Chef Bahçeli (#14) heißt mit Vornamen Devlet, auf Deutsch „Staat“ – selbst nach Maßstäben der extravaganten neotürkischen Vornamen außergewöhnlich extravagant. (Bahçeli bedeutet wiederum „mit Garten“).
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Die andere Seite dieser Staatsverklärung: Hass und immer wieder Gewalt gegen alle, die man für „Staatsfeinde“ hält: Kommunisten, Sozialisten, Liberale und – sofern diese politische Rechte beanspruchen – Aleviten, Kurden, Armenier, Juden, Aramäer… Stets in der Selbstgewissheit, die „Existenz des Staates“ zu verteidigen.
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Diese Staatsverklärung hängt eng mit der Geschichte der MHP zusammen: Türkeş und die meisten anderen Parteigründer waren Militärs mittlerer Ränge, die 1960 am Putsch beteiligt waren (#15), aber später von den linkskemalistischen Kräften aus der Junta gedrängt wurden.
Umgekehrt war das Verhältnis des Staates zur Ülkücü-Bewegung oft eng, aber nicht ungebrochen. In den 70ern lieferte sich die MHP-Jugendorganisation blutige Auseinandersetzungen mit teils ebenfalls bewaffneten Linken, verübten aber auch Terroranschläge auf Journalisten (#16) oder Gewerkschafter (#17).
Manche, darunter Cem Özdemir, fanden es besonders geschmacklos, dass Demirals Wolfsgruß auf den Jahrestag des Pogroms von Sivas vom Juli 1993 (35 Tote) fiel.
Tatsächlich haben Ülkücü-Anhänger Pogrome gegen die alevitische Bevölkerung zu verantworten. Aber nicht unbedingt Sivas. Dieses von der Staatsmacht geduldete Massaker wurde von Islamisten organisiert; Anlass die Veröffentlichung von Passagen aus Salman Rushdies „Satanischen Versen“ in einer linken Zeitung.
Die anti-alevitischen Pogrome, die von militanten Ülkücü organisiert wurden, liegen länger zurück: Kahramanmaraş (Dezember 1978, über hundert Tote; #18) und Çorum (Juli 1980, 57 Tote; #19).
Einer der berüchtigtsten Killer aus den Reihen der Grauen Wölfe sollte bald daruf weltberühmt werden: Papst-Attentäter Mehmet Ali Ağca (#20).
Für bestimmte Kräfte innerhalb des Staatsapparats waren diese militanten Rechtsextremisten Teil einer „Strategie der Spannung“. Nach dem Putsch vom September 1980 wurde auch sie verhaftet, neben Linken wurden auch einige Ülkücü-Anhänger hingerichtet (#21). Putschistenführer Kenan Evren erklärte die „Türkisch-Islamische Synthese“ zur Staatsdoktrin; „unsere Ideen sind an der Macht, wir sind im Knast“, klagte Türkeş.
Dann, in den 80er und 90er Jahren, rekrutierte man militante Ülkücü-Anhänger für Todesschwadronen gegen die PKK, aber auch gegen Mitglieder der kurdischen Zivilgesellschaft (#22). Unter den Angehörigen der offiziellen wie der informellen Anti-Terroreinheiten tummeln sich bis heute zahlreiche Rechtsextremisten.
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Der Krieg im kurdischen Südosten schuf eine eigene Kriegsökonomie, in der eine Ülkücü-nahe Mafia entstehen konnte.
Der erste Mafiapate der Grauen Wölfe war Abdullah Çatlı, in den 70ern ein maßgeblicher Verantwortlicher der militanten MHP-Jugend, später als Drogenhändler von Interpol gesucht, eng mit Kräften im Staatsapparat verwoben, was im Februar 1996 mit dem Sususluk-Skandal ans Tageslicht kam.
Bis heute ist ein nennenswerter Teil der organisierten Kriminalität in der Türkei eng mit den Grauen Wölfen verknüpft.
Der wohl wichtigste Ülkücü-Pate der Gegenwart: Alaattin Çakıcı, mit dem MHP-Chef Bahçeli gerne posiert (#24).
Ein anderer Mafia-Boss und Grauer Wolf: Sedat Peker (#25). Vor etwa zehn Jahren erklärte er während eines Gefängnisaufenthalts seine Loyalität zu Erdoğan. Im Frühjahr 2021 wandte er sich wieder von ihm ab und begann mit einer spektakulären Serie von Enthüllungsvideos Erdoğan und einige von dessen engsten Vertrauten unter Druck zu setzen. Dabei belastete er sich auch selbst, indem er u.a. erklärte, welche Übergriffe und Einschüchterungsaktionen gegen Oppositionelle er im Auftrag des Regimes durchgeführt habe.
Auch sonst hat die Bewegung der politischen Gewalt nie gänzlich abgeschworen. Der damals 16-jährige Mörder, der im Januar 2007 in Istanbul den türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink (#26) erschoss, kam aus den Reihen einer anderen (heute ebenfalls mit Erdoğan verbündeten) MHP-Abspaltung. Hintergründe und Auftraggeber wurden nie geklärt.
Das letzte Opfer: Sinan Ateş (#27), ehemaliger Chef der MHP-Jugendorganisation und als potenzieller Bahçeli-Nachfolger gehandelt, wurde im Dezember 2022 auf offener Straße in Ankara von den eigenen Leuten ermordet.
Für die Verwicklung von hochrangigen MHP-Politikern und Polizisten in den Ateş-Mord gibt es himmelschreiende Indizien. Trotzdem – genauer: gerade deshalb – ist die Anklageschrift gegen die ausführenden Killer eine Farce.
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Zusammengefasst: Die Ülkücü (Grauen Wölfe) sind heute Teil der Regierung oder in der Opposition, im Staatsapparat gut organisiert, in der Polizei schon lange, neuerdings auch in der Justiz. Sie sind Teil der organisierten Kriminalität und zugleich Teil der Popkultur (#28, #29), nicht zuletzt unter Fußballfans (#30)
Aus alledem kann man Gründe für oder gegen ein Verbot der Grauen Wölfe und/oder ihrer Symbole ableiten. Aber vielleicht hilft dieser Exkurs zu verstehen, warum in der Türkei nicht allein Anhänger von AKP/MHP, sondern auch manche Außenstehende nicht Demirals Geste, sondern die Sanktionen der Uefa und die Kommentare deutscher Politiker für einen Skandal halten.
Das Thema wird bleiben, selbst wenn dieser junge Mann (#31) und seine Teamkollegen es heute Abend für die Europameisterschaft beenden sollten.“


SPITZENSATZ (98)

Wie kriegen wir es hin, dass in pseudo-linken Gruppen das Tragen eines Pali-Tuchs als kulturelle Aneignung geächtet wird und sie sich darüber zerstreiten?“ (bzw. Spitzenidee natürlich, von Thomas Mayer @f-book, 1.7.)



ZU DEN STATISTIKEN DER HAMAS

Die „Königlich Bayerische Antifa“ ist ein vorbildlich starkes Bollwerk gegen jede Form von Faschismus und verbreitet auf ihrem f-book-Kanal viele Statements und Informationen, hier ein Zitat von Dalia Ziada, ägyptische Demokratin und Nahost-Expertin (28.6.):

„Die Hamas hat sich zwischen Zivilisten versteckt, unter ihren Häusern. Hamas-Kämpfer waren in Krankenhäusern. Hamas-Kämpfer missbrauchen die Zivilbevölkerung lieber als menschliche Schutzschilde, als sie in Tunneln oder anderen Schutzräumen zu schützen.
Hamas ist der Grund für die hohen Todeszahlen in Gaza. Wenn wir die Statistiken ernst nehmen würden, die Hamas uns präsentiert. Dabei wäre es wohl sehr schwer, die Zahl der Getöteten so rasch festzustellen, wie Hamas es tut. Es scheint mir äußerst unrealistisch. Abgesehen davon traue ich Hamas und ihren Statistiken grundsätzlich nicht über den Weg. Selbst die Vereinten Nationen mussten die Hamas-Zahlen kürzlich herunterrechnen, die das sogenannte „Gesundheitsministerium“ der Hamas ihnen als Gesamt-Todeszahlen in Gaza präsentiert hatte. Es herrscht immer noch die Undurchsichtigkeit eines Krieges.
Und ja, natürlich stehe ich immer noch für den israelischen Krieg gegen die Hamas. Nicht gegen „Gaza“, denn es ist Israels Krieg gegen die Hamas. Und ich stehe weiterhin für Israels Krieg gegen die Hisbollah, gegen die Huthis und an allen sieben Kriegs-Fronten.“


KINKY FRIEDMAN REST IN PEACE

Der große und einzigartige „jüdische Unruhestifter“ als Autor, Singer-Songwriter, Entertainer und Politiker, Richard „Kinky“ Friedman starb vorgestern mit 79 in seiner texanischen Heimat, oder, wie er selbst es nannte, er ging auf den Regenbogen.

Hier zuerst das Nachwort, das ich zu seinem Kriminalroman The Mile High Club (Der glückliche Flieger, Edition Tiamat, 2005) schrieb, anschließend das Interview, das ich 2013 mit ihm führen durfte, als er das jüdische Kulturfestival „Hip im Exil“ in Mainz eröffnete:

 

„Wenn die Sache irre wird, werden die Irren zu Profis.“ Hunter S. Thompson

DER HALLUZIONIST AUF DER STARTBAHN

Der Komiker hat immer das Problem, dass man ihn nicht ernst nimmt, wenn er mal ernst genommen werden will. Der Komiker nennt sich Kinky, und das ist nicht nur ein Wort für seinen Lockenkopf, sondern bedeutet auch verrückt oder sogar pervers. Der Komiker ist gegen die erlaubten 55 Meilen auf texanischen Straßen und schreibt in diesem Buch, er werde „ein Tempolimit von 54,95 Meilen pro Stunde“ einführen, „wenn ich erst zum ersten jüdischen Gouverneur von Texas gewählt bin.“

Diese 13. Folge der Krimi-Serie erschien 2000. Am 29. November 2003 berichtete die New York Times eine ganze Seite lang, dass der populäre Autor komischer Krimis und Ex-Countrysänger Kinky Friedman bekannt gab, bei der nächsten Gouverneurswahl in Texas 2006 kandidieren zu wollen.

Zunächst hielt man das Vorhaben für einen großartigen Coup, denn seit über dreißig Jahren ist der Zigarrenraucher bekannt für seinen schwarzen Humor und seine meisterhafte Selbstinszenierung. Allein schon durch das Medienecho war der Coup gelungen. Aussagen wie, er werde aus der Sache wenigstens mit einem neuen Buch oder einer neuen Frau herauskommen, bestärkten die Hoffnung, dass er die Welt mit einer Parodie auf Arnold Schwarzenegger verbessern wollte. Ganz oben in seinem Wahlprogramm stand das Verbot, Katzen die Krallen entfernen zu dürfen. Im waffenvernarrten Texas erklärte er, dass er keine Waffen möge und „wer auf mich schießen will, muss seine eigene Kanone mitbringen.“ Und als neuen Chef der legendären Hilfspolizei Texas Rangers würde er seinen Freund, die Country-Ikone Willie Nelson mitbringen; von dem weiß fast jeder, dass er für die Legalisierung des Marihuanarauchens eintritt.

Jetzt schien er also endlich in Arbeit zu sein, der Film, den die Welt tatsächlich braucht. Die Marx Brothers regieren Texas! Mit Kinky Friedman in der Rolle des von ihm hochverehrten Groucho Marx.

Aber dann stellte sich heraus, dass der 61-jährige Richard Friedman das Amt ernsthaft ins Visier nahm. Ende Januar 2005 eröffnete er offiziell seinen Wahlkampf, ein Jahr bevor die Demokraten und Republikaner ihre Kandidaten bestimmen. Erstmal befindet er sich in der Vorkriegsphase: als unabhängiger Kandidat muss er 45000 Unterschriften von Wahlberechtigten einsammeln, die seine Kandidatur unterstützen, um zur Wahl zugelassen zu werden. Er versucht diejenigen für sich zu gewinnen, die ebenfalls von Polit-Profis die Schnauze voll haben, und als Wahlkampfleiter konnte er einen gefürchteten Polit-Profi gewinnen. Ex-Senator Dean Berkley schaffte es 1997 in Minnesota für die Unabhängige Partei, den Ex-Wrestler und Schauspieler Jesse Ventura zum Gouverneur durchzuboxen. Den jüdischen Unruhestifter Kinky Friedman in dieselbe Position zu bringen, dürfte schwieriger sein, auch wenn der inzwischen verstärkt an einem etwas seriöseren Image arbeitet.

„Why the Hell not?“ Mit diesem Slogan zieht der Möchtegern-Gouverneur in die Schlacht. Einige Texaner wissen, warum, zur Hölle, sie diesen Mann nicht wählen werden.

Mit dem Stern der Juden auf dem Stetson sprang Kinky Friedman 1973 in die Countrymusik. Da waren in dieses konservative Gebiet schon ein paar Rock-Gitarren und lange Haare und Songs gegen Cops, die Vietnamkriegsgegner verprügeln, eingedrungen. Waylon Jennings und Willie Nelson hatten erfolgreich gegen ein Country-System gekämpft, in dem der Produzent über den Musiker herrschte. In dieser Befreiung entstand der Outlaw-Country, in dem auch die Proteste und Moden der 60-er Jahre zu erkennen waren. Mit Kinky Friedman and The Texas Jewboys kam nun der wildeste Haufen von allen hereingestürmt. Auf der Bühne war es eine durchgeknallte Freak-Show, mit den größten Klappen, schrillen Klamotten und Verkleidungen, permanent Gags und Verarschungen. Die Show wirkte wie von vielen dicken Haschtüten angetrieben, es war der leibhaftige Country-Albtraum. Die politischen Hoffnungen der amerikanischen Gegenkulturen waren so gut wie begraben, aber aus deren Spaßguerilla-Fraktion kamen jetzt diese Jewboys. Viele Plattenhändler waren ebenfalls Juden, und viele von ihnen boykottierten die erste Platte, weil sie den Namen für eine antisemitische Anspielung hielten; hätten sie sich die Songs angehört, hätten sie einen selbstbewussten, kämpferischen Bruder entdeckt. Vom ersten Album ‚Sold American‘ konnte man nicht auf das irre Auftreten der Truppe schließen, und der melancholische Titelsong über einen ehemals erfolgreichen Sänger und den Verlust von echten und nicht dollargesteuerten amerikanischen Werten wurde ihr einziger Country-Top-Ten-Hit. So kamen sie tatsächlich in Nashvilles heiligste Halle. Reverend Jimmie Snow kündigte den Kinkster an als den „ersten vollblütigen Juden, der die Bühne der Grand Ole Opry je betreten hat“.

Zu hören bekam das Publikum auch den Song ‚We Reserve The Right To Refuse Service To You‘. Es ist die Geschichte eines Mannes, der in einem texanischen Lokal nicht bedient wird, weil er ihnen irgendwie „kommunistisch und jüdisch“ vorkommt. So behandelt man ihn öfter, und als er dann in seine Synagoge geht, um für Israel zu beten, wird er auch dort zum Verlassen aufgefordert. „Was hast denn du für Freunde“, sagt der Rabbi zu ihm, „die sehen alle aus als würden sie von der Wohlfahrt leben.“

Was den Antisemitismus betraf, wurde der Songwriter Friedman in ‚They Ain´t Makin Jews Like Jesus Anymore‘ noch deutlicher. In einer texanischen Kneipe bekommt ein Jude von einem reaktionären Redneck-Burschen einen politisch-religiösen Vortrag gehalten: „Ihr wollt doch bloß Christenmädchen flachlegen und ihr habt Gottes einzigen Sohn ermordet! Aber du siehst ja gar nicht jüdisch aus, ich hab dich für einen gut gekleideten Country-Nigger gehalten.“ Der Jude beantwortet den rassistischen Rundumschlag mit einem „son of a bitch“, schlägt ihn zusammen und erklärt ihm, dass heute keine Juden wie Jesus mehr gebaut werden und sie deshalb nicht mehr die andere Wange hinhalten.

Für alle konservativen Amerikaner, die sich davon nicht betroffen fühlen wollten, hatte er noch einen Song im Programm, der sich hervorragend zum Mitsingen und Mitklatschen eignete. 1969 hatte Countrystar Merle Haggard einen Nr.1-Hit mit ‚(Proud To Be An) Okie From Muskogee‘, der zur Hymne gegen Hippies und ähnliches Protestvolk wurde. Dieser Okie, dieses ganz einfache Landei aus dem Kaff Muskogee war stolz darauf, genau das zu sein, denn bei ihnen rauchte man kein Marihuana, gab´s keinen freien Sex, wurden keine Einberufungsbescheide verbrannt und man war auch sonst anständig, kurzum ein aufrechter Amerikaner. Es half nichts, dass Merle Haggard später betonte, er habe das auch ironisch gemeint, seine Gruppe würde am meisten rauchen und dass er es entrüstet ablehnte, für einen rechten Südstaaten-Gouverneur Wahlkampf zu machen: der Song war eine Flagge, und Kinky Friedman brachte die Parodie ‚(I´m Proud To Be An) Asshole From El Paso‘. Der aufrechte Amerikaner sitzt nun im berüchtigten El Paso an der mexikanischen Grenze und ist stolz darauf, dass „wir unsere Frauen nicht mit dem Nachbarn tauschen und unsere Töchter Jungfrau bleiben bis zur Heirat, aber hier kaufen wir uns jetzt ein süßes jungfräuliches mexikanisches Mädchen und den Illegalen, die aus Mexiko rübergemacht haben, zahlen wir 20 Cents die Stunde.“ Weil die Melodie identisch war, durfte der Song zu seiner Zeit nicht auf Platte erscheinen, obwohl Merle Haggard nichts dagegen hatte, aber er blieb nicht unbekannt, er kam herum. Man muss keiner sein, der das Gras wachsen hört, um einen Radiomann sagen zu hören, dieser Dings da, der neue Song ist ja nicht schlecht, aber hat der nicht und das könnte doch! Es ist unwahrscheinlich, dass der Text viel von seinem Gewaltpotential verloren hat. Friedman glaubt wohl zurecht, dass dieses Arschloch aus El Paso einiges dazu beitrug, seine Musikkarriere zu behindern. Die auch nicht gefördert wurde von einigen großen, traurigen Songs.

Den Holocaust, in der populären Musik ein sehr beliebtes Thema, besang er in ‚´Ride ´em Jewboy‘, und es ist ein Cowboy, der den Juden nun beschützt, und wenn der Weg „sechs Millionen Meilen“ lang ist. (In diesem Moment höre ich die Meldung, dass das Ku-Klux-Klan-Mitglied Killen für seinen dreifachen Mord an Bürgerrechtlern in den frühen 60-er Jahren in Mississippi zu 60 Jahren verurteilt wurde). Den Cowboy so zu sehen, entspricht dem Bild, das seine Säulenheilige, die von den Nazis ermordete Anne Frank vom Cowboy hatte. An der Wand in ihrem Amsterdamer Versteck hatte sie Fotos von Film-Cowboys befestigt, für sie waren sie ein Symbol für Gerechtigkeit und Schutz für jeden. Und in diesem Sinn möchte der Gouverneurs-Kandidat den Cowboy wieder zu vorbildlichen Figur machen in Texas, wo allerdings die alten Cowboy-Machoklischees wie in keinem anderen Bundesstaat hochgehalten werden. Auf einen anderen traurigen Song verwies der Kandidat als er zum Thema Abtreibung befragt wurde. Er sagte, er habe noch keine genaue Position dazu, könnte aber auf ‚Rapid City, South Dakota‘ verweisen, vermutlich den einzigen Pro-Abtreibungs-Countrysong. Falls das politische Gegner verwenden, werden sie womöglich nicht erwähnen, dass es hier um einen sozialen Notfall geht.

So kam´s also, dass die Texas Jewboys nicht erfolgreich, aber berüchtigt waren, und in den verchiedensten Lagern auch noch. 1974 wurde ihr Anführer von der Frauenorganisation Woman´s Lib zum „Male Chauvinist Pig of the Year“ gewählt; ein krasses Missverständnis, weil sein Song ‚Put The Biskuits In The Oven And Your Buns In The Bed‘ nicht als Parodie verstanden wurde auf einen klassischen Macho, der Angst hat, die Emanzipationsbewegung könnte ihm seine Frau klauen. Auf dem Karrierehöhepunkt waren sie 1975 ein paarmal zu Gast bei Bob Dylans spektakulärer Tournee ‚Rolling Thunder Revue‘ und 1976 wurde Friedman bei der dritten LP ‚Lasso From El Paso‘ auch noch von Stars wie Ringo Starr, Eric Clapton, Ron Wood, Dr. John und einer Hälfte von The Band unterstützt. Es half nichts, d Jewboys gingen auseinander, einige von ihnen starben an Drogen, Friedman zog nach New York. Jahrelang hielt er sich vor allem mit regelmäßigen Auftritten in der Country-Basis Lone Star Café über Wasser. Der berühmte Autor sagte später, er sei dort „eine Art Joe-Louis-Grüßaugust des Hauses“geworden; nach seiner glorreichen Zeit als Boxchampion hatte Joe Louis in Las Vegas diesen Job gehabt. Deshalb erklärt der Detektiv in vielen Büchern, er habe so viele Konzerte gegeben und sei so lange on the road gewesen, dass er den Klang der singenden menschlichen Stimme nur noch hasse, und reicht die Lebensweisheit weiter, dass es nur ein Schritt von der Limousine in die Gosse ist.

Der Besitzer des Lone Star Mort Cooperman hält in dieser Zeit als einer der wenigen zu ihm. Zum Dank bekam er in den Krimis die schöne Nebenrolle des Detective Sergeants, der als harter New Yorker Cop drei Dinge auf den Tod nicht ausstehen kann: Countrymusik, texanische Landeier in New York und vor allem Hobbydetektive.

Seine Bücher seien eigentlich Wiederholungen der Songs und neue, sagt der Autor. Seine Abenteuer als Countrysänger sind in allen Büchern präsent, für einige könnte man sogar den Ausdruck Country-Krimi erfinden: in ‚Lone Star‘ setzt er nicht nur seinem Säulenheiligen Hank Williams ein Denkmal, sondern auch dem Café; in ‚Nie wieder Tequilla‘ erinnert er sich ausführlich an die Jewboys und ihr Treiben, das Jahre später den verschiedensten Leuten immer noch einen Grund geben könnte, sie alle töten zu wollen; in ‚Straßenpizza‘ begleitet er seinen alten Freund Willie Nelson auf Tournee, der damals als Produzent des zweiten Albums gefeuert wurde, weil die Studioarbeit wie eine Dauerparty aussah.

Erst durch die Popularität der Romane wurden die Songs aus der vergessenen Zone geholt, jetzt unterstützten sie den Autor bei den Lesungen, der jedoch trotz Neueinspielungen, Wiederveröffentlichungen und gelegentlichen Konzerten nie den Wunsch verspürte, ein ehemaliger Ex-Sänger zu werden. Rehabilitiert, ausgegraben oder veredelt wurden seine Songs von Größen wie Dwight Yoakam, Lyle Lovett, Willie Nelson, Tom Waits und anderen für das Tribute-Album ‚Pearls In The Snow‘.

„I want the state“, sagt der Möchtegern-Gouverneur, „to be run by musicians, not politicians“. Wer seine Bücher gelesen hat, kann ihm da nicht so einfach zustimmen.

Sein Leben war ziemlich verpfuscht, er war ein Ex-Country-Halbstar, ein texanisches Original in New York, ein kokainsüchtiger Grüßaugust, als ihm Ende 1983 etwas passierte, das ihn angeblich auf die Idee mit dem Kriminalroman brachte. In seinem New Yorker Stadtteil Greenwich Village schlug er eines Nachts am Geldautomaten in einer Bank einen Räuber in die Flucht, der es auf die Freundin seines verstorbenen Kumpels John Belushi (‚Blues Brothers‘) abgesehen hatte. „Country-Sänger entreißt Gangster sein Opfer!“, hieß die Schlagzeile, und der Autor erzählt dieses Abenteuer schon am Anfang von Band 1 ‚Greenwich Killing Time‘, denn auch sein Held, der Hobbydetektiv Kinky Friedman, entdeckte in dieser Nacht mit dieser guten Tat sein neues Hobby, die Verbrechensaufklärung.

Ohne jeden Umbau schickte Friedman seine Bühnenfigur The Kinkster in die Wortfelder, und wie schon der Countrysänger hing er dort seltsam herum zwischen Ironie und Ernst, schwarzem Humor und Melancholie, hatte keine Kanone und keine Ahnung von Kampfsport und statt der wie üblich gut gebauten Sekretärin nur eine Katze an seiner Seite. Was hatte dieser Sherlock-Holmes-Typ im modernen Kriminalroman verloren? Und in die Abteilung mit den immer noch beliebten romantischen Krimis passte er auch nicht, weil er ständig den Watergate-Präsidenten Nixon als Synonym für Scheißen benutzte und auch sonst betulichen Umschreibungen weniger zugeneigt war… Das Manuskript, nach der Bankomat-Sache in wenigen Monaten geschrieben, wurde von über 20 Verlagen abgelehnt (ehe es 1986 bei Beech Tree Books erschien). Die verständnislosen Lektoren hatten damit fast so viel Pech gehabt wie damals mit Mickey Spillane und seinem Mike Hammer. Es entging ihnen ein produktiver Autor mit schnell wachsender Fangemeinde, die bis heute 17 Kinky-Folgen bekam. Im dritten Band ‚Wenn die Katze weg ist‘ hat Richard Friedman mit den Lektoren abgerechnet. Ein Killer zieht durch den Berufsstand, ein Lektor, für dessen Romanmanuskript sich niemand interessiert. Die Serie, deren Personal und Ort weitgehend gleich blieb (nur die frühen Gespielinnen wurden irgendwann durch die angebetete und unerreichbare Luxusbraut Stephanie Dupont ersetzt), startete 1992 auch in Deutschland, das der jüdische Cowboy gern „mein zweitliebstes Land der Erde“ nennt, während ihm alle anderen Länder die liebsten wären.

Auf der Buchrückseite stand, dass der Autor sich in seinem Detektiv selbst portraitierte und seine realen Freunde in seinem Hilfskommando The Village Irregulars und dass man diese Krimis auch als Kneipenführer benutzen könnte. Das erhöht keine Spannung, aber das Spiel wird interessanter, wenn man weiß, dass auch das ein ziemlich ernster Gag ist. In vielen Interviews betont der Autor, dass er außer dem Verbrechen so gut wie nichts erfunden habe. Falls die Gegner des Gouverneur-Kandidaten wissen möchten, ob er damals seinem Land so tapfer in Vietnam gedient hat bzw. dazu bereit war, wie das von einem Politiker erwartet wird, müssen sie nur Band 4 ‚Frequent Flyer‘ lesen. Der doppelte Kinky erzählt viel über seinen Einsatz beim Friedens-Corps auf Borneo, wo er nach seinem Psychologiestudium ab 1966 für zweieinhalb Jahre tätig war „als landwirtschaftlicher Berater für Menschen, die seit mehr als 2000 Jahren erfolgreich Landwirtschaft betrieben.“ Ein Einsatz in Vietnam sei für ihn undenkbar gewesen, weil er nicht „die gleichen Leute mit den gleichen lustigen Spitzhüten abknallen“ wollte. Viel Glück können sich jedoch seine politischen Gegner wünschen, falls er seinen Freund Steven Rambam, den echten Chef der echten Detektiv-Agentur Pallorium beauftragt, sich bei ihnen im Keller ein wenig umzusehen. Das schöne an diesem speziellen Dreh ist, dass nur dem Autor Nahestehende wissen können, wo Schluss ist mit der Authenzität. Wir können nicht glauben, dass Rambam der „Killerjude“ ist, wie ihn der Autor manchmal nennt. Aber die Altnazis, die der weltweit bekannte und erfolgreiche Jäger von NS-Verbrechern enttarnt hat, sind wahrscheinlich anderer Meinung.

Raymond Chandler hat den modernen Kriminalroman mit dem berühmt gewordenen Satz charakterisiert: Dashiell „Hammett zog den Mord aus der venezianischen Vase, in der er so lange gegrünt und geblüht hatte, und pflanzte ihn an die Straße.“ Kinky Friedman hat den Mord wieder in die venezianische Vase gesteckt, die Vase aber an der Straße stehen gelassen. Deshalb tut er nicht so, als wäre die Figur des Hobbydetektivs jemals etwas anderes als eine literarische Halluzination gewesen und sagt, bevor ihm jemand schlau kommt, „Miss Marple und ich, wir beide lieben eben ein ordentliches Geheimnis.“ Diese Selbstironie ist so einmalig im Genre wie Friedmans Sprachwitz, und damit zerballert er so viele alte und neue Krimi-Klischees, dass reihenweise pseudo-taffe Autoren aufgeben müssten, deren mühevolle Hauptarbeit darin besteht, gerichtsmedizinische Gutachten und Polizeimethoden säuberlich in das Deckchen einzuarbeiten, auf dem ihre Vase steht; die mir am besten gefällt, wenn künstlerisch hochbegabte Serienkiller ihre Werke sogar in den nettesten mitteleuropäischen Nestern ausstellen und dabei in einem biedermeierlichen Buchstabenarrangement ersticken; aus der von Agatha Christie bemalten Vase wurde eine Designer-Vase mit Internetanschluss, das ist alles. Bei Kinky Friedman gibt es keine Abbildungen von Blut- oder Spermabädern, aber seine Komik klingt oft wie das fröhliche Pfeifen, wenn du nachts allein im Wald spazieren gehst. Der Lauschangriff auf seine Angebetete ist eine tolle Slapsticknummer, aber im Rückspiegel erkennt er „den einsamsten Mann, den ich je gesehen habe.“ Das Nicht-Erklären, Andeuten, Nebenbei-Sagen und Doppeldeutige ist spannender als in vielen Krimis der Überfall inklusive Abschlachten. Ein Satz wie „ideologische Differenzen dürfen einen nie von einem formschönen Arsch abhalten“ enthält mehr Probleme als ein Ziegel von John Grisham.

Weniger der Plot oder das Gerätsel um den Täter, sondern mehr um das Schaffen einer Atmosphäre gehe es ihm, sagt der Autor; „seine Mordgeschichten geben nur den Rahmen für seine lakonischen, melancholischen oder komischen Sentenzen, mit denen er sich der Daseinsidiotie entgegenschwingt“, schrieb Wiglaf Droste im Nachwort zu ‚Ballettratten in der Vandam Street‘. Und da ist zu viel Daseinsidiotie benannt, von Joggern über Raucherbekämpfer bis zu den guten Christen, die den Juden fragen, warum sein Volk ihren HErrn ermordet habe, um als Parodie abgeschoben werden zu können. Mit seiner Missachtung aller guten Krimisitten ist Friedman ein Unruhestifter im Genre. Von den Freiheiten, die er sich nimmt, würde eine komplette Klasse für Kreatives Schreiben nichtmal träumen. Man hat keine Ahnung, was das nächste Kapitel bringen könnte, ein langes Palaver mit Brennan, McGovern, Ratso und Rambam, die Nacherzählung von Oscar Wildes ‚Märchen vom Prinzen‘, vielleicht eine neue Spur oder Tat, die Hitliste der größten jüdischen Unruhestifter der Weltgeschichte oder eine kleine Abhandlung über männliche Stehpissgewohnheiten in Amerika. Weil er stark von Stand-Up-Comedy beeinflusst ist, hängt der Autor andererseits an seinen Standard-Gags, in allen Büchern wird ein Nixon abgedrückt, klingeln die beiden Telefone, fliegt der Puppenkopf und erhält die Katze die Verantwortung über das Loft. Das sind persönliche Merkmale, die auf den Serien-Leser irgendwann nicht mehr wirken, aber es könnte ja ein Neuling daherkommen, der nicht weiß, dass Southern Baptists nur den einen Fehler haben, dass sie bei der Taufe nicht lange genug unter Wasser gehalten werden. Ein (jüdischer) Witz, der im christlichen Texas besonders gut ankommt. Dort gibt es auch den schönen Spruch, dass ein Mann, der auf Frauen mehr steht als auf Football, schwul ist. Nur in New York kann der Typ, dem sowas passiert wie dem Kinkster in diesem Abenteuer, als Texaner durchgehen.

Das „Fliegen mit jüdischem Radar“ nennt Friedman seine Methode. Auf dem Radarschirm sind die jüdischen Spuren so stark zu erkennen wie die des linken/liberalen Countercultural Movement der Sechziger- und folgenden Jahre. Wie schon der Songwriter verbreitet der Krimiautor diese Unruhe weiter und befeuert seine Plots permanent mit Statements, die nicht literarisch verhüllt sind. Das ist der Gipfel der Identifikation zwischen Autor und Figur. In der Folge ‚Der Leibkoch von Al Capone‘ gibt es einen seitenlangen, hasserfüllten Vortrag über das FBI, die Geschichte seiner illegalen Aktionen und seines Antisemitismus, der auf eine Stufe mit dem der übelsten Nazis gestellt wird. Im Hintergrund von ‚Straßenpizza‘ steht deutlich der Protest gegen die jahrzehntelange Inhaftierung trotz fehlender Beweise von Leonard Peltier, Symbolfigur des indianischen Widerstands und seiner Brechung mit fast allen Mitteln; es schien so gut wie sicher, dass Präsident Bill Clinton ihn am Ende seiner Amtszeit begnadigen würde, aber, natürlich unbeeinflusst vom Protest einiger hundert FBI-Beamter, der erklärte Kinky-Fan entschied anders (ein Indiz dafür, dass es Kinky-Leser gibt, die das alles vielleicht nur einfach ganz toll witzig finden). Zwei seiner hochverehrten jüdischen Unruhestifter (neben Jesus, Spinoza, Freud, Karl und Groucho Marx, Jack Ruby und Joseph Heller) sind bis heute starke Hassobjekte des konservativen und etablierten Amerika, für ihn aber „Märtyrer“ und „direkt vom Heiligen Geist gesandt“: in vielen Büchern gibt es zumindest eine knappe Verbeugung vor Lenny Bruce. Der gilt als Begründer der modernen Stand-Up-Comedy und war das Komiker-Idol aller Anti-Gruppen seit der Beat Generation. Was heißt denn Comedy? Eine zeitlang beendete er seine Shows mit einem Gedicht über Adolf Eichmann, dem Organisator der Judenvernichtung, und setzte die Pointe, dass die Amerikaner mit dem Abwurf der Atombomben auf Japan ebenfalls Großes geleistet hätten. Viel übler aber war für viele, dass er schon in den 50er Jahren offensiv über Sex und Drogen redete. Nachdem er wegen öffentlicher Verwendung des Ausdrucks „Cocksucker“ 1962 angeklagt wurde, kam es zu einem Prozess, der für das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst eine bahnbrechende Wirkung hatte. Unterstützt von mehr als hundert Prominenten aus dem Showgeschäft, wurde nach zwei Jahren aus der einjährigen Haftstrafe ein Freispruch. Bruce selbst hatte von seinem Befreiuungskampf – das klingt im von Dumm-Comedy verseuchten Deutschland alles bescheuert, ich weiß – wenig, der Prozess hatte ihn zermürbt, sein Name war jetzt ein Symbol für den Ärger, den kaum jemand engagieren wollte, 1966 starb er an einer Überdosis Heroin. Da machte sich das andere „vom Heiligen Geist gesandte“ Kinky-Idol Abbie Hoffman erst richtig an die Arbeit, er wurde zum bekanntesten weißen Anführer der studentischen Bürgerrechts- und Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und im Gegensatz zu Rudi Dutschke war er nicht nur Vordenker und Sprecher, sondern auch der oberste Spaßguerillero der sogenannten Yippies. Sein berühmtes Manifest für ein antirassistisches und -kapitalistisches Amerika ‚Steal This Dream‘ erschien in Deutschland unter dem Titel ‚Klau mich‘ bei Trikont. 1968 stellten die Yippies einen eigenen Präsidentschaftskandidaten: ein Schwein namens Pigasus. Im selben Jahr kam es zum Prozess gegen die „Chicago Eight“, unter den Angeklagten waren Hoffman und Black Panther Bobby Seale. Ihnen wurde vorgeworfen, beim Parteitag der Demokratischen Partei einen Aufstand angezettelt zu haben. Erst 1971 wurden alle freigesprochen, eine Untersuchungskommission der Regierung kam zu dem Schluss, es habe sich im Gegenteil um einen „Polizei-Aufstand“ gehandelt, eine Agent Provocateur-Aktion also. Das steigerte den Reiz, es diesem Typen endlich zu zeigen. „Abbie hatte eine Anklage wegen Drogen am Hals, eine Inszenierung von Beamten der Bundesbehörden, die ihn aus anderen Gründen drankriegen wollten …“, beschreibt es Kinky Friedman in der Folge ‚Ohrensausen‘, die nichts weniger als ein Denkmal für diesen Abbie Hoffman ist, verfasst nicht irgendwann damals, als doch jeder irgendwie etwas kritisch drauf war, sondern 1998, und verbunden mit der schönen Idee, dass Detektiv Kinky nach einem Unfall das Bewusstsein verliert und in der Zeit landet, als er ein abgemeldeter Countrysänger auf Kokain war, Rambam ein Rabbi und Hoffman im Untergrund. Der Detektiv erzählt, dass er ihm Unterschlupf gewährte, auf der Familienfarm in Texas und in diversen New Yorker Wohnungen, und wir erinnern uns, dass der Autor sich unglaublich bemüht, hinter seiner Literatur zu verschwinden. Parallel zu seinem Roman kann man auch die Hoffman-Biografie ‚Steal This Dream‘ des Soziologen und Popkultur-Autors Larry Sloman, in der Serie dabei als Ratso, lesen. Abbie Hoffman wurde dann unter dem Namen Barry Freed ein bekannter Umweltschutzaktivist, ohne jemals von FBI- oder anderen Profi-Ermittlern enttarnt zu werden. 1989 nahm ihn irgendein Heiliger Geist mit der Selbstmord-Methode aus der Welt. Was Kinky Friedman besonders an ihm schätzt ist, dass er als letzter der Anführer die Ideale des Countercultural Movement, und damit sind keine Kiffer-Träume gemeint, niemals aufgegeben und keine Karriere in der Wall Street oder sonstwo dort oben angestrebt hat, „and everytime I question authority I think of him.“

Der wichtigste Grund, warum das FBI einen wie Hoffman unbedingt drankriegen wollte, ist für Friedman aber, „dass er das Leben auf diesem Planeten nicht so ernst nahm wie sie es erwarteten.“ Und im vorliegenden Band erscheinen auf dem jüdischen Radar diejenigen, die mangelnde Ernsthaftigkeit oder auch den schwarzen Humor, dem nichts heilig ist, am wenigsten ertragen können. Sieben Jahre nach dem ersten Anschlag auf das World Trade Center landen in Kinkys Loft „35 Fahrkarten zur Hölle“, von denen Rambam glaubt, dass sie „zum Fluchtplan der nächsten Gruppe, die das World Trade Center in die Luft sprengen will“, gehören. Abgesehen davon, dass kein „scheißfundamentalistischer scheißislamischer Terrorist“ so einen Fluchtplan umsetzen konnte, sollte sich die Vermutung im Jahr darauf am 11. September bestätigen. Die religiöse Pest, die sich seitdem weiter ausgebreitet hat, beschrieb Friedman schon damals genau. Bei einem seiner Denkspaziergänge stößt er auf die „kleinen Dinge“ der Religion, „die praktisch bedeutungslos waren, wenn sie auf dem Labortisch der modernen Wissenschaft analysiert wurden, für die Völker der Welt jedoch den Unterschied zwischen brüderlicher Liebe und Haß festlegten und definierten.“ Weil er kein Schmalspur-Unruhestifter ist, beobachtet er, wie schon damals in einigen Songs, auch das eigene Gebiet. Er ist fassunglos als ihm sein jüdisch-orthodoxer Freund die „Scheißvorschrift“ im Talmud erklärt, die es ihm verbietet, sich in der Wohnung die Nägel zu schneiden, und es würde ihn nicht wundern, wenn auf der Pergamentrolle in der Mesusa, die jede jüdische Behausung segnet und die sich keiner zu öffnen traut, einfach nur stünde „kein Pfand – keine Rücknahme“. Dagegen dürfte sein Blick auf die Christenheit speziell im reaktionär-christlich geprägten Texas weniger Heiterkeit bewirken: „Wie viele harmlose Don Quijotes, unschuldige Beduinenkinder und alte Damen mit drei Katzen oder mehr mußten sterben, weil ein fettes Mädchen in einem Waschsalon in Buttflaps, Montana, ein blödes kleines Kreuz um den Hals baumeln hatte? Wie ich sehe, tragen Sie einen sechszackigen Stern. Warum hat Ihr Volk unseren HErrn umgebracht? Aus Jux und Tollerei, nehme ich an.“

Als der Gouverneur-Kandidat sich im Frühjahr 2005 ernsthaft an die Arbeit machte, war er Gast in der populären Talkshow ‚The O’Reilly Factor‘ auf Fox News, einem Schlachtschiff des Murdoch-Medienimperiums, wo schon die New York Times als Attacke von links gilt.

Vor allem wäre doch klar, sagte Bill O’Reilly, dass die Vertreter der mächtigen Parteien versuchen werden, ihn in Stücke zu reißen. „Absolutely“, sagte Kinky Friedman.

Falls die Kandidaten der Demokraten und Republikaner auf die Idee kommen, einige ihrer Mitarbeiter sollten sich etwas genauer mit seinen Werken beschäftigen, dann bekommen sie mehr von solchem Stoff. Man kann ihm nur wünschen, dass sie es als Literatur verstehen, die keinen anderen Sinn hat „als Amerikaner im Flugzeug zu unterhalten.“ Der New Yorker Hobbydetektiv ist das erste Opfer der politischen Ambitionen des Texaners. Um sich voll darauf konzentrieren zu können, hat er ihn im 17. Abenteuer über den Jordan gehen lassen. Oder anders gesagt: es habe ihm jetzt gereicht mit dieser Identifikationsarbeit.

Nach seinem ersten Krimi ist der Autor von New York auf die Familienfarm in Texas zurückgekehrt, und bevor die Sache erfolgreich wurde, versuchte er 1986 einen ordentlichen Beruf zu ergreifen. Er bewarb sich um das Amt des Friedensrichters, hatte aber keinen Erfolg mit seinem Wahlversprechen: „Wenn Sie mich zum ersten jüdischen Friedensrichter wählen, werde ich die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 54,95 Meilen herabsetzen.“

Bei seinem neuen Polit-Versuch tritt der „Halluzionist“ in den Hintergrund und betont auf der sogenannten Wahl-Plattform seine ernsten Ziele. Ganz oben steht die Reform des Erziehungs- und Gesundheitswesens: Texas ist einer der reichsten US-Staaten und steht andererseits an der Spitze, was Kinderarmut, schlechte Ausbildungsmöglichkeiten und soziale Probleme allgemein betrifft; um das zu finanzieren – im Steuerparadies Texas wäre allein schon ein Witz über Steuererhöhung politischer Selbstmord – möchte er das staatlich kontrollierte Glücksspiel einführen. Dass die letzten amerikanischen Präsidenten als Fans seiner Bücher bekannt sind, wird ihm mehr Stimmen bringen, und dass Laura Bush eine Freundin aus Kindertagen ist, die schon seine ‚Animal Rescue Farm‘ unterstützt hat, schadet auch nichts. Im Bereich Umweltschutz soll die Umstellung von Benzin auf Bio-Treibstoff gefördert werden, und die Idee ist dort ähnlich beliebt wie hier bei uns. Beim Thema Todesstrafe zeigt sich, dass Friedman jetzt tatsächlich wie ein Politiker vorgeht: er ist, im Staat mit der höchsten Hinrichtungsquote, „nicht gegen die Todesstrafe“, sondern für eine strengere Überprüfung der Fälle, um die Hinrichtung von Unschuldigen möglichst auszuschließen. Das könnte manche Verehrer wie mich so nachdenklich stimmen wie seine Antwort auf O’Reillys Frage, ob er denn nun liberal oder konservativ sei: „I´m not for the parties, I´m for Texas.“ Außerdem solle das Schulgebet wieder eingeführt werden. Da klingt es im zunehmend antiamerikanischen Deutschland auch passend, dass er, anders als früher, sogar Freundliches über George W. Bush sagt, was allerdings eher mit der Tatsache zu tun hat, dass die USA der stärkste Schutz für Israel sind. Das Ziel, den alten Ruhm von Texas wieder herzustellen, mit dem Cowboy wieder als Vorbild, klingt seltsam, aber er meint eben in Anne Franks Sinn damit Gerechtigkeit und eine Gesellschaft, die ihre Schwächsten beschützt. Deshalb nennt er seinen Wahlkampf „nicht politisch, sondern spirituell.“ Dass er „Lehrer, Feuerwehrleute, Cops und Soldaten“ als wahre Helden sieht und gegen den Geist der Politik stellt, macht es deutlicher.

Seine Chance ist minimal, aber nicht gleich Null. Amtsinhaber Rick Perry hatte sich bei einer Wahlbeteiligung von gerade 30 Prozent nur knapp durchgesetzt und ist nicht beliebt. Die 100 Millionen Dollar, die jede der beiden großen Parteien im Wahlkampf verpulvern wird, sind nicht nur in gewissen Anti-Lagern ein Zeichen für ein kaputte Politik, mit dem die Amateure vom „Why the Hell not?“-Team schon deshalb nicht zu verwechseln sind. Die entscheidende Frage wird dennoch sein, ob nicht der vernünftige Romantiker, sondern auch der Unruhestifter ein paar Leute mehr als damals gewinnen kann. Denn er hat als Kandidat den Schwanz nicht eingezogen, sondern sozusagen nur etwas weniger ausgestellt, und die Befürchtung, dieser warmherzige, bissige, große Unruhestifter könnte von der Politik gefressen werden, ist nicht so groß wie es hier wahrscheinlich den Anschein hat. Er ist in der politischen Welt ein sensationeller Querschläger, der sich permanent Sprüche leistet wie „I want to be Gouvernor because I need the closet space“ oder „I support gay marriage, I think they have every right to be just as miserable as the rest of us.“

Was kann man hören, wenn man sich bemüht, das Gras wachsen zu hören? Als zu Beginn des Wahlkampfs ein professioneller Medienberater Friedmans Team ergänzte, betonte der Mann, sie würden das Verrückte und Untypische dieses Wahlkampfs beibehalten, und wie um sein Profil sichtbar zu machen, nannte er Hunter S. Thompson seinen liebsten politischen Schreiber, den Autor von ‚Angst und Schrecken in Las Vegas‘, den Drogen- und Waffenfreak, noch so eine Ikone aus dem Protestsumpf der Sechziger (vor dessen schleichender, das brave Amerika immer noch zersetzender Wirkung auf Vox News gewarnt wird), der bis zu seinem Selbstmord im vorigen Jahr so heftig wie kaum jemand Nixon, die Bushs und andere politische Gefahren attackierte. 1970 hatte Thompson einen legendären Wahlkampf geführt, als er in Aspen, Colorado, Sheriff werden wollte und ihm nur wenige Stimmen fehlten. In seinem letzten Buch erinnerte er sich, was er ständig von seinen Leuten zu hören bekam: dass er, sollte er die Wahl gewinnen, das Büro nicht lebendig betreten würde.

KINKY FRIEDMAN IST HIER!



ARTISTS AGAINST ANTISEMITISM AUGSBURG

Beim Jahresfest des Staatstheaters Augsburg am 30.6. (Link unten) ist im riesigen Programm auch die Gruppe „Artists Against Antisemitism Augsburg“ dabei: mit einem „runden Tisch“ von 16-18h, an dem Fragen, Antworten, Diskussionen möglich sind. Auch zu diesem aktuellen Deutschland-Trend:

Soeben wurde der RIAS Jahresbericht 2023 in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Die Zahl der erfassten antisemitischen Vorfälle war 2023 ca. 83% höher als 2022. Zentralratsgeschäftsführer Daniel Botmann zu den Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft: „Jüdinnen und Juden erleben den öffentlichen Raum als zunehmend unsicher und haben vielfach Angst, sich als jüdisch zu erkennen zu geben. Sorge bereitet vielen auch die Frage, ob in Zukunft ein freies und sicheres Leben als Juden in Deutschland möglich sein wird.“

https://staatstheater-augsburg.de/theaterfest

https://artistsagainstantisemitism.org



GOOD NEWS

WikiLeaks-Gründer und PEN-Berlin-Ehrenmitglied Julian Assange ist frei und wird es wohl bleiben, wenn bei einer letzten Absegnung nichts passiert:

„Mehr als zehn Jahre dauerte der Rechtsstreit um eine Auslieferung von Julian Assange an – nun darf er wohl in seine Heimat Australien zurückkehren. Hintergrund ist ein Deal mit den USA, der ein Schuldbekenntnis des WikiLeaks-Gründers vorsieht (…)

Im Anschluss an sein Schuldbekenntnis und eine Verurteilung wegen Spionagevorwürfen soll er in seine Heimat Australien zurückkehren. Das geht aus am Montagabend veröffentlichten Gerichtsdokumenten hervor. Ein Gericht muss die Einigung allerdings noch absegnen (…)“ WikiLeaks „veröffentlichte in der Nacht bei X ein Video, das zeigen soll, wie der 52-Jährige am Montag am Flughafen Stansted ein Flugzeug besteigt. Seine Ehefrau Stella Assange repostete den Clip und schrieb: „Julian ist frei!!!!“ (…) Doch erst „wenn der Richter den Deal absegnet, ist er formell gültig“, mahnte sie.“

https://www.tagesschau.de/ausland/assange-312.html



NILS KOPPRUCH (27)

In Erinnerung an den Maler „SAM.“, wie sich Singer-Songwriter Nils Koppruch (1965-2012) als Maler nannte, ist nächstes Jahr eine Ausstellung in Hamburg geplant (auch die Hamburger Sonderschule ist noch nicht vergessen, das ist mal sicher) – hier das Schreiben der beiden Kuratorinnen, die auf zahlreiche Unterstützung von SAM.-Sammlern hoffen:

„Nächstes Jahr gibt es wieder eine SAM. Ausstellung ��. Wenn ihr mitmacht. Hier der Aufruf mit Kontakt-Mails ganz unten:
Liebe Leute, wir schreiben euch, weil wir wissen, dass ihr SAM.-Bilder habt.
Wir planen eine Ausstellung, um viele Bilder noch einmal zusammenzubringen und den Geist und die Atmosphäre der damaligen Ausstellungen zu beschwören. Angefeuert durch die Ausstellung, die Ruth und Martin im Februar in Mönchengladbach auf die Beine gestellt haben, soll es in absehbarer Zeit (voraussichtlich Anfang nächsten Jahres) in Hamburg stattfinden!
Der Plan geht so:
– alle, die diese Mail erhalten haben, schicken sie weiter an Menschen mit Sam.-Bildern.
– alle, die ihre Bilder für ca. 2 Wochen verleihen wollen, schicken Handyfotos der Bilder für die Planung an uns.
– alles weitere ergibt sich danach.
Für alle, die sich von einem SAM. trennen möchten, gäbe es hier die Möglichkeit, das Bild im Rahmen der Ausstellung zum Verkauf anzubieten. Für alle, die mal einen Sam. tauschen möchten, soll es ebenfalls ein Forum dafür geben.
Da die Ausstellung ein Non-Profit-Event sein wird, ist es nicht möglich, die geliehenen Bilder zu versichern. Bei Teilnahme unterschreibt ihr eine entsprechende Vereinbarung. Und – wenn ihr mögt – erklärt ihr euch einverstanden, dass die Bilder für ein Buch fotografiert werden.
Auf geht’s! Wir zählen auf euch und freuen uns auf jede Menge Rückmeldungen!
Katrin > email hidden; JavaScript is required
Petra > email hidden; JavaScript is required


BILDUNG IST KEINE GARANTIE

gegen Antisemitismus“ – Rede von Monika Schwarz-Friesel zum 7. Oktober, die sie Anfang Mai vor dem österreichischen Parlament anlässlich der „Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“ gehalten hat (die Autorin lehrt als Professorin an der TU Berlin)

„In einem Gedicht fragte die jüdische Schriftstellerin und spätere Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs 1961: „Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?“ Zwar existierte damals der Staat schon, doch Nelly Sachs bezog sich mit dem Wort Israel zeitlebens allgemein auf die jüdische Existenz. Und so führt die Frage genau in die Mitte meines Vortrags. Denn Judenhass und Israelhass bilden eine untrennbare Symbiose.
Ich war gebeten worden, über den Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 zu sprechen. Seit 20 Jahren forsche ich zum Thema Judenfeindschaft und bin mit den Abgründen und Manifestationen dieses kulturellen Hasses vertraut. Und dennoch ist es mir noch nie so schwergefallen, einen Vortrag hierzu zu formulieren. Dies nicht nur aufgrund der Bestialität des Massakers, sondern auch, weil die Reaktionen auf diese Monstrosität selbst monströs waren und sind. Weil uns drastisch vor Augen geführt wird, dass Teile der Menschheit nichts aus der Geschichte gelernt haben.
Der 7. Oktober zeigte die Quintessenz von Judenhass, seine ultima ratio, den unbedingten Willen, die jüdische Existenz auszulöschen. Hier begegnen wir nicht der Banalität des Bösen, sondern dem antisemitischen Bösen per se in seiner grauenerregendsten Eigenschaft. So wie die Nationalsozialisten glaubten, Juden müssten als Weltenübel zum Wohle der Menschheit ausgerottet werden. Am 7.10. zelebrierte und sakralisierte man diesen eliminatorischen Antisemitismus.
Antisemitismus unter Muslimen? „Wir haben andere Sorgen“
Eine Szene verdeutlicht dies: Ein mitgeschnittenes Handygespräch, bei dem man die Stolz-erregte Stimme eines jungen Palästinensers hört. „Mutter, dein Sohn hat heute zehn Juden getötet! Ich rufe dich vom Telefon eines toten Juden an. Sag’s Vater! Ihr Blut ist an meinen Händen. Mutter, dein Sohn ist ein Held!“ Der Vater ruft freudig: „Töte! Töte! Töte! Töte!“ Entsprechend mahnte der Holocaustüberlebende und Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz: „Und der Antisemit unserer Zeit will nicht mehr seine Abneigung gegenüber Juden ausdrücken, er will Auschwitz“.
Am 7. Oktober 2023 wurden über 1200 Menschen jeden Alters gefoltert, verstümmelt, verbrannt. Mit Jubelgeschrei. Nur durch die explizite Nennung dieser Gräueltaten ist das Ausmaß des moralischen Versagens weiter Teile der Welt-Bevölkerung zu verstehen. Es hätte einen internationalen Aufschrei geben müssen. Doch stattdessen kam das ohrenbetäubende Schweigen von denen, die sonst lautstark als erste sich empören. Es schwiegen die Feministinnen zu den Massenvergewaltigungen, es schwiegen die progressiven Akademien und Kunstszenen zu den grausamen Ermordungen junger Menschen, es schwiegen die Friedensaktivisten und Anti-Rassisten zu den Bestialitäten.
Die politisch korrekten Moralisten, die sonst bei jeder Minderheitendiskriminierung aufschreien, sie verhöhnten die Opfer und deren Familien durch judenfeindliche Täter-Opfer-Umkehrungen, auch – und besonders virulent – an Universitäten (wie wir es gerade in den USA sehen). Die Ja-aber-Rhetorik des pseudo-intellektuellen und politischen Diskurses (bis hinauf zur UN-Ebene) reproduzierte unter dem Schlagwort „Kontextualisierung“ das alte antisemitische Argument, die Juden seien selbst schuld an ihrem Unglück.
Verstand, Anstand und Mitgefühl wurden zugunsten ideologischer Verblendung, zugunsten eines anti-israelischen Narrativs aufgegeben. Und nicht nur in Israel, sondern in den jüdischen Gemeinden weltweit kam mit Wucht die Re-Traumatisierung und mit ihr die bittere Erkenntnis, wie einsam man im 21. Jahrhundert trotz aller Beteuerungen des floskelhaften „Nie wieder“ blieb.
In den Sozialen Medien gab es einen Post in Anlehnung an das berühmte Zitat von Niemöller, der die Fassungslosigkeit insbesondere junger progressiver Juden widerspiegelt, den ich hier (in Übersetzung) verlesen möchte: „Sie attackierten Lesben und Schwule, und ich stand dagegen auf, sie attackierten die schwarze Gemeinschaft, und ich stand dagegen auf, sie attackierten die Migranten und ich stand dagegen auf. Dann attackierten sie mich, aber ich stand allein, weil ich jüdisch bin.“
Überraschend kamen Empathie-Verweigerung und Hass-Eruptionen nicht. Der Boden dafür war seit Jahren längst gelegt, und Ähnliches erlebten wir schon anlässlich der Gaza-Krise 2014, als auf den Straßen Europas „Hamas, Juden ins Gas“ gegrölt wurde und im Internet verbale Gewaltexzesse stattfanden. Wir warnen in der empirischen Forschung seit langem – immer wieder und öffentlich – vor einem Antisemitismus, der im medialen Diskurs ein Feind- und Zerrbild des jüdischen Staates etabliert.
Moralisch integer – und antisemitisch
Das Fazit unserer Konferenz „Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte“ (Evyatar Friesel/Jehuda Reinharz/Monika Schwarz-Friesel) lautete „Der israelbezogene Antisemitismus ist heute die frequenteste Form der aktuellen Judenfeindschaft, doch ausgerechnet dieser wird in Politik und Zivilgesellschaft der wenigste Widerstand entgegengesetzt. Hier liegt die Gefahr der Ausweitung und Habitualisierung von Antisemitismus in der … Mehrheitsgesellschaft.“ – Das war vor 15 Jahren!
Aktuell konstatiere ich vier politisch-ideologische Formen der Judenfeindschaft: linken, rechten, muslimischen – und einen mittig-gebildeten Feuilleton-Antisemitismus. Trotz aller ideologischen Divergenzen weisen alle vier Synergien auf, bilden zum Teil Allianzen, so seit längerem schon linksextreme und islamistische Bewegungen. Alle treffen sich in der Dämonisierung Israels.
Dabei legt – seit jeher – der gebildete und moralisch integer auftretende Antisemitismus mit seiner polierten Rhetorik, der als „Sorge um den Weltfrieden“ daherkommt, die geistige Brandstiftung, denn er setzt die Ideen in die Köpfe. Die Radikalen, Extremisten, Ignoranten, die indoktrinierten Studierenden, sie fungieren dann als Brandbeschleuniger.
Nach dem Pogrom deutete die bekannte amerikanische Gender-Ikone Judith Butler das Massaker als „Aufstand“, als „bewaffneten Widerstand“, sie sah keinen Terrorakt und keinen Antisemitismus, und die Hamas hatte sie einst als „linke soziale Bewegung“ bezeichnet. Inwiefern das Köpfen und Verbrennen von Säuglingen Widerstand sei, erklärt sie nicht. Stattdessen bringt auch sie durch ihre Prominenz das alte anti-jüdische Kausal-Argument in das kollektive Bewusstsein: Wenn Juden Gewalt zugefügt wird, liege dies am Verhalten der Juden.
Niemanden sollte es wundern, Antisemitismen bei hochgebildeten Menschen zu sehen. Man denke an die judenfeindlichen Äußerungen von Augustinus, Luther, Voltaire, Fichte oder Hegel, in den Bildungsromanen der liberal-progressiven Autoren Dickens, Wilde, Dostojewski finden sich die Topoi des bösen, schmutzigen, gierigen Juden fest verankert. Ihre Schriften träufelten das Gift in das Bewusstsein von Millionen Lesern. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war der Anteil gebildeter Antisemiten höher als der ungebildeter.
Denn das judenfeindliche Ressentiment ist kein Vorurteil, nicht bloß Rassismus, sondern ein kollektiver Denk- und Gefühlshabitus, und leider ist Bildung kein absoluter Garant dagegen. Jahrhundertelang glaubten Antisemiten, der kollektive böse Jude schlachte Kinder und paktiere mit Satan, heute glauben sie in direkter Anlehnung an dieses Zerrbild, der jüdische Staat sei ein rassistisches Apartheidsregime, das Kinder ermorde.
Anne Frank als „weißes Kolonial-Mädchen“
Gebildete und progressiv auftretende Personen mit Dr. und Prof.-Titel sind so gefährlich, weil die Menschen ihnen ohne Verdachtsmoment zuhören, weil sie den moralischen Anspruch nach außen tragen, die Guten zu sein. Deshalb erhalten ihre Texte und ihre zahlreichen Unterschriftenlisten so viel Gewicht in der Öffentlichkeit. Der woke Manichäismus pflegt mit großer Toleranz gegenüber dem jüdischen Staat die Intoleranz. Publiziert werden dabei von den Medien selbst die krudesten Ideen, zum Beispiel seit einigen Jahren Aussagen des postkolonialen Ansatzes, der die Shoah relativiert und Israel delegitimiert.
Diese geschichtsverfälschende Schablone liefert längst nicht nur israelfeindliche, sondern auch kollektiv gegen alle Juden gerichtete Diskreditierungen, wenn zum Beispiel Anne Frank posthum als „weißes Kolonial-Mädchen“ bezeichnet und ihr Tagebuch verbrannt wird. Das saliente Symbol für das jüdische Leben und Überleben in der Welt ist Israel und daher der Stachel im Geist aller modernen Antisemiten. Es ist weder ein neuer noch ein politischer Empörungsantisemitismus, und er liegt auch nicht im Nahostkonflikt begründet.
Er hat keine andere Kausalitätsstruktur als den Antijudaismus, wobei der Konflikt als Katalysator fungiert. Zu betonen ist daher ausdrücklich, dass Israel-Hass als Weltanschauung kontinuierlich auch ohne Krisen, Kriege und Siedlungsbauten artikuliert wurde und wird. Wer glaubt, Israelhass sei gespeist von der aktuellen Konfliktsituation, lese die Hassbotschaften, die Asher Ben Nathan, der erste Botschafter Israels in Deutschland, bereits erhielt.
Seit seiner Gründung wird der jüdische Staat gehasst, weil er existiert, nicht, weil er etwas tut oder nicht tut. Was ich „Israelisierung des Antisemitismus“ nenne, zeichnet sich dadurch aus, dass klassische Stereotype (wie Kindermörder, Landräuber, Völkerzerstörer) zeitgemäß angepasst auf Israel projiziert werden, und dass Juden überall auf der Welt kollektiv unter dem Vorwand des Konfliktes attackiert werden. Wir sehen hierbei in der Forschung alle Merkmale des klassischen Judenhasses.
Antisemitische Konzepte ziehen sich auch durch die massiv zugenommenen Abwehr- und Leugnungsprozesse: Das viel beschworene Kritiktabu ist eine krude Kopfgeburt, denn kein Land der Erde wird so heftig und so oft kritisiert wie Israel; legitime Kritik und Antisemitismus werden selbstverständlich nicht gleichgesetzt, und aufgrund klarer Kriterien gibt es für uns auch keine Grauzonen bei der Abgrenzung.
Alle diese Phantasmen werden produziert, um sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu immunisieren. Auch dies ist nichts Neues: Wilhelm Marr, Verfasser der einflussreichsten antisemitischen Hetzschrift im 19. Jahrhundert, beteuerte, sich nicht vom Judenhass leiten zu lassen, aber er müsse doch „wahrheitsgemäß aufdecken, wie schädlich Juden agierten“.
Wir stoßen hier auf Deutungskämpfe, die – so einst Franz Kafka – „Die Lüge zur Weltordnung“ machen wollen. Die Weltlüge über das jüdische Israel ist schon weit und breit etabliert. Sie wird zu oft von zu vielen geglaubt. Und sie hat furchterregende Konsequenzen. Wir alle stehen vor der Herausforderung, diesem Lügengeflecht Fakten entgegenzusetzen.“
(Nachdruck auf welt.de, 22.6., daher Zwischenüberschriften)
(Dokumentiert: https://www.youtube.com/watch?v=DIWL7pWuEHA