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KONTRAFAKTISCHES QUERGEDENKE (IN EINEM BRIEF AUS MARSEILLE)

Wie immer sensationell gut: die jetzt am Kiosk liegende jährliche Sonderausgabe des Wochenblatts Jungle World, für die die Zeitungsleute woanders hingehn, um zu schauen und zu berichten: diesmal Marseille und aus allen Blickwinkeln Marseille. (Wo ich mich übrigens deshalb wahnsinnig gut auskenne, weil ich ein paar tausend Seiten von Jean-Claude Izzo gelesen habe).

In der Ausgabe aber natürlich auch ein Blick auf deutsches Krisengebiet: Markus Liske analysiert schärfstens die Partei Die Linke (die sich „weiterhin als eine Art Sammelbecken für alle [sieht], die sich selbst als »links« definieren, ganz gleich, was sie darunter jeweils verstehen mögen“). Ein Auszug:

„18.41 Uhr am 1. Oktober 2024: Die israelischen Streitkräfte melden den Beginn eines heftigen iranischen Raketenangriffs auf israelische Städte. Wenig später folgt die Meldung eines Terror­attentats im Tel Aviver Stadtteil Jaffa mit sechs Toten und mindestens 17 Verletzten. Nahezu gleichzeitig, um 18.55 Uhr, fordert die frühere Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete auf der Plattform X die Regierungen der EU und der USA auf, jegliche Waffenexporte und sonstige Unterstützung Israels zu stoppen. Offenbar ist sie überzeugt, dass der Nahe ­Osten ein wahres Kuschelparadies sein könnte, würde man Israel einfach der Möglichkeit berauben, sich gegen das islamistische Regime im Iran und die von ihm unterstützten Terrororganisationen Hamas und Hizbollah zu wehren.

Als Einzelmeinung wäre das keine größere Aufregung wert. Die sogenannten sozialen Medien werden ja nicht erst seit gestern mit allerlei kontrafaktischem Quergedenke gefüttert, und Israel ist ebenfalls nicht erst seit gestern eine beliebte Projektionsfläche für Leute, die zur Sühne der Kolonialverbrechen ihrer Ururgroßväter gerne einen Sündenbock im Hier und Jetzt hätten. Doch Rackete ist keine x-beliebige ­Aktivistin, sondern seit diesem Jahr Abgeordnete im Europaparlament für die Linkspartei, die – so steht es jedenfalls im Parteiprogramm – »für das Existenzrecht Israels« eintritt. Wie geht das zusammen? Die Antwort: gar nicht.“

Der ganze Desaster-Bericht auch online:

https://jungle.world/artikel/2024/41/linkspartei-vorstandswahl-pluralistisch-in-den-untergang

(Und mein Geschenk für Ihr Poesiealbum: Die Linke ist so links wie die CSU christlich.- Nichts zu danken.)



NILS KOPPRUCH (28)

Nils Koppruch, Singer-Songwriter und Maler, starb am 12. Oktober 2012 völlig unerwartet wenige Tage vor seinem 47. Geburtstag.

An dem Tag wollte ich morgens grade aus der Tür gehen, um zum Bahnhof zu gehen, um unsere Tochter in München zu besuchen, als ihr Anruf kam, und ich dachte, es wäre ihr was dazwischen gekommen, aber uns allen war was dazwischen gekommen, Nils ist gestorben, sagte sie, das habe sie grade von einem Musikerfreund erfahren, aber ich konnte es nicht glauben, aber dann hatte ich auch schon eine Mail mit der Nachricht, und dann konnte ich nicht mehr rausgehen, stand mit Mantel und Mütze so da, und es kommt mir manchmal so vor, als würde ich immer noch so dastehen und nicht rauskönnen und  kanns immer noch nicht glauben, wenn ich immer mal wieder an ihn denken muss, das kann doch nicht wahr sein, ich wache jetzt auf und habe mal wieder irgendeinen verdammten Unsinn geträumt.

* * *

Nils Koppruch veröffentlichte mit seiner Band Fink von 1997-2005 sieben Alben, danach drei Solo-Alben, ehe er mit Gisbert zu Knyphausen die Band Kid Kopphausen gründete, deren Album „I“ im August 2012 erschien. Koppruch starb wenige Wochen nach der ersten und sehr erfolgreichen Tournee. 2014 erschien bei Trocadero eine Werkausgabe inklusive der Doppel-CD „A Tribute to Nils Koppruch + Fink“ mit Einspielungen von Fehlfarben, Bernadette La Hengst, Olli Schulz, Kettcar u.v.a. NEU im September 2022 bei Trocadero Records: Alle Fink-Alben auf Vinyl anlässlich des 10. Todestags von Nils und des 25-jährigen Jubiläums der Band.



ARTISTS AGAINST ANTISEMITISM

Abteilung Augsburg, Treffpunkte:

7. Okt: Mahnwache im Gedenken an den 7. Okt 23: 16h Königsplatz

„…eine stil­le Kund­ge­bung, in de­ren Mit­tel­punkt die Gei­seln ste­hen, die sich im­mer noch in der Ge­walt der Ha­mas be­fin­den… Wir be­trau­ern in stil­ler So­li­da­ri­tät die Tat­sa­che, dass sich der jü­di­sche Staat seit sei­ner Grün­dung im­mer wie­der Ag­gres­sio­nen aus­ge­setzt sieht, ge­gen die er sich zur Wehr set­zen muss.“

13. Okt: 11h Staatstheater Augsburg: „Also wie möchtest du sterben?“

Neue Texte israelischer Autor:innen: Avishai Milstein & Hadar Galron + Gespräch mit Hadar Galron und Nikolas Lelle (Amadeu Antonio Stiftung), Moderation: Matthias Naumann – (Eine Kooperation von Staatstheater Augsburg mit Artists Against Antisemitism Augsburg und dem Institut für Neue Soziale Plastik)

„Nach dem 7. Oktober 2023 entstand als Idee des Institut für Neue Soziale Plastik das Projekt »Schreiben über Die Situation« an den Münchner Kammerspielen. Dafür schrieben israelische und diasporische Dramatiker:innen und Schriftsteller:innen literarische Texte über den Schrecken und die Ungewissheit nach dem Überfall der Hamas. Zwei Texte dieser Reihe kommen nun auch in Augsburg zu Gehör: Avishai Milsteins »Dualidarität« erzählt von einem Gespräch zwischen einem Autor und einer Theaterdramaturgin und legt darin schonungslos, aber ohne zu verurteilen, die Konflikte im Umgang mit dem Nahost-Konflikt offen. Hadar Galrons »Also wie möchtest du sterben?« beschreibt eine Szene aus dem Alltag einer israelischen Familie nach dem 7. Oktober und stellt dieser den »Letzten Anruf eines Jihadisten zu Hause« gegenüber. Galron gelingt es in aller Kürze, die Katastrophe im Alltäglichen zu zeigen und konkret, aber differenziert über Menschlichkeit zu schreiben.“ (Die Texte lesen die SchauspielerInnen Natalie Hünig, Klaus Müller, Miriam Birkl und Thomas Prazak).

https://staatstheater-augsburg.de/also_wie_moechtest_du_sterben

https://artistsagainstantisemitism.org/


ES IST MAL WIEDER

der große alte weise Countrysongster Willie Nelson, der den Ängstlichen und Abgehängten und Geldgierigen und Abgestumpften und allen anderen sagt, was Sache ist und wie die Welt weitergehn sollte, ehe sie friedlich zur Hölle fahren kann:

„Your enemy is not the refugee. Your enemy is the one who made him a refugee.“



KRIS KRISTOFFERSON REST IN PEACE

Der große und (neben Harlan Howard) größte Poet unter den (Country-)Songwritern verstarb vorgestern im Alter von achtundachtzig Jahren, und seine Songs sind so groß, dass sie auch von seiner großen Filmkarriere (* siehe unten) nicht überschattet wurden, sie sind forever. Manche Songs wurden mit Elvis, Janis, Johnny, Ray oder Waylon so legendär, dass sie ihnen und nicht Kris Kristofferson zugeschrieben wurden, und sie wurden und werden quer durch alle Reihen von Reggae bis Punk immer wieder und weiter gespielt.

Songs mit soviel Blues, dass man Warnschilder aufstellen könnte – und Songs wie „The Law is for Protection of the People“ (und nicht, um blindwütig prügelnde Cops zu schützen). Er hatte die Courage, sich auch, ohne Musik, frontal mit dem reaktionären Amerika anzulegen. Ein Beispiel: „Das Indian Movement konnte nach der Belagerung von Wounded Knee 1973 nur in gemäßigter Form weiterarbeiten. Einer der Anführer, Leonard Peltier, ist bis heute trotz katastrophaler Beweislage inhaftiert wegen Mordes an zwei FBI-Beamten… Willie Nelson und Kris Kristofferson haben mehrmals Benefizkonzerte für Peltier unterstützt…“ (zitiere ich aus meiner Cash-Biographie).

* Wie es in der Tagesschau-Meldung so schön heißt: „In Sam Peckinpahs Western ‚Pat Garrett and Billy the Kid‘ von 1973 spielte er zusammen mit James Coburn die Rolle des berüchtigten Outlaws.“



SPITZENSATZ (99)

„Ich habe 4-5 Rezensenten die Mitarbeit aufgekündigt, nachdem ich erfahren hatte, dass sie ihre Texte den Autoren vorab zu lesen gegeben hatten.“ (Gustav Seibt, f-book, 30.9.)



WENNS ZU VOLL WIRD IN BERLIN

dazu schreibt Mit-Herausgeber Heiko Werning zur Buchpremiere „Sind Antisemististen[*] anwesend?“, Montag 30.9., Berlin, Pfefferberg-Theater, 20 Uhr:

„Also, wenn alle kommen, die ja gar nichts gegen Juden haben, sondern nur Israel kritisieren dürfen wollen, obwohl man das ja nicht mehr darf, ohne gleich mit der Antisemitismuskeule zum Schweigen gebracht zu werden, oder die nur mal darauf hinweisen wollen, dass die Juden halt jetzt dasselbe mit den Palästinensern machen wie die Nazis damals, dann wird`s zu voll.
Aber wir setzen darauf, dass wir mit dem kleinen, feinen Rest doch das schöne Pfefferberg Theater gut besetzt bekommen zur Premiere unseres prallen Satiren-, Geschichten- und Cartoon-Bandes „Sind Antisemitisten anwesend?“, in dem wir das machen, was man mit all den oben erwähnten Gestalten halt einzig sinnvoll machen kann: sie auslachen.
Mit dabei: Meine Mitherausgeber Lea Streisand und Michael Bittner und ich, außerdem der große Songwriter Danny Dziuk / Dziuks Küche, die Lesebühnenfreunde Susanne M. Riedel, Bov Bjerg, Franziska Hauser, Clint Lukas und Ahne von den Zwiegespräche mit Gott sowie der wunderbare Alexander Estis. Und ganz viel Security.
Wer sich schon mal warmlesen will: Kostproben gibt`s als Imprint in der aktuellen Jungle World.
Und wer sich warmhören möchte: Hier erklärt Lea sehr schön auf Radio 1, wie es zu dem Projekt gekommen ist und wie es ihr persönlich geholfen hat, mit dem aktuellen Wahnsinn fertigzuwerden. https://www.radioeins.de/…/sind-antisemitisten-anwesend…
* „Antisemististen“ : gelungener Verschreiber von „Antisemitisten“
(Das Buch im Satyr Verlag)


AUS DEM TAGEBUCH EINES ÜBEREIFRIGEN MUSIKSTUDENTEN (27)

Unter den Gedichten, die ich in über vierzig Jahren zu schreiben gewagt habe, sind schon einige, in denen irgendwas mit Musik vorkommt (wobytheway ich das Wortspiel mit musick noch nie eingesetzt habe, weil vergessen oder zu platt, ich weiß es nicht),  aber dieses war bisher nicht dabei:

* MÄNNER AM PLATTEN *

Gestern schreibt einer habe er

sensationell bei seinem Secondhandler

Ascension von Coltrane

gefunden und gekauft

und bekommt sofort

als erste Antwort die Frage

wieviel haste denn dafür bezahlt?

+++



DAS „MICHEL-SYNDROM“

„»Der Osten macht’s!« und »Der Osten steht auf« – das waren die Hauptparolen der AfD in den zurückliegenden Landtagswahlkämpfen in Thüringen und Sachsen. Der Erfolg dieser Agitation war schlagend, ein Musterbeispiel dafür, wie Identitätspolitik funktioniert: als Appell ans kollektive Ressentiment, der jede Sachfrage von Infrastruktur- und Sozialpolitik (…) nahezu komplett vom Tisch wischte. (…) Das spezifische Element des Rebellischen des im heutigen Ostdeutschland deutlich weiter als in Westdeutschland verbreiteten Autoritarismus ist damit noch nicht recht erfasst; ein Element, das

Wolfgang Pohrt 1990 bereits als »Michel-Syndrom« definierte:

Dieser Typus »fühlt sich aller von ihm selber ausgeübten Brutalität zum Trotz doch immer als der deutsche Michel, den die ganze Welt übers Ohr haut und aufs Kreuz legt« und »der ungefähr folgendes zu Protokoll geben würde, wenn er reden könnte: Allen geht es besser als mir, und das liegt nur daran, daß ich zu anständig und zu gutmütig bin. Mein Leben lang wurde ich eigentlich betrogen, übervorteilt, hintergangen und verkannt. Stets wurde mir vorenthalten, was mir zusteht. Weil ich immer zu kurz kam und nie auf meine Kosten, bin ich gekränkt und beleidigt. Ich verspüre Nachholbedarf und besitze Anspruch auf Wiedergutmachung, die Welt schuldet mir was.«““

Auszug aus dem Essay „Antipolitik für Zurückgebliebene“ von Uli Krug in der seit heute erhältlichen neuen Ausgabe der Jungle World: https://jungle.world/inhalt/2024/38



SEIT HEUTE GIBT ES

in Mainz eine Martin-Büsser-Straße. Das ist ja ´n Ding!, kann man sagen, und man kann auch sagen, dass es sowas in der Ostzone jetzt aber nicht gegeben hätte, aber da wird´s ja dafür dann auch was anderes geben.