Bildung

KONSEQUEER AUSBLENDEN

„Die Polizei war anwesend, aber bei grenzüberschreitenden Parolen wie „From the river to the sea“ wurde nicht eingeschritten. In einer der Reden wurde Israel als „rassistisch“ und „homophob“ bezeichnet. Man wiederholt sich: Dass Israel das einzige Land in der Region ist, in dem queere Menschen rechtlich geschützt leben, in dem gleichgeschlechtliche Partnerschaften anerkannt werden, in dem queere Familien existieren – wird konsequent ausgeblendet (…) Die Gleichzeitigkeit ist bezeichnend: Während queere Symbolik in Verbindung mit Israel als Angriff empfunden wird, wehte auf der gleichen Demo eine Flagge des iranischen Mullah-Regimes – eines Regimes, das queere Menschen öffentlich hinrichtet.“ (Werner Gaßner, f-book 19.6. über eine Demo in München)


WEITERFÜHRENDE FRAGEN

Ein Radiobeitrag „von unserem Fachjournalisten Thies Marsen, der einen entscheidenden Moment der Weltgeschichte beleuchtet: das Kriegsende am 8. Mai vor 80 Jahren und die Kapitulation Hitler-Deutschlands. Thies Marsen spricht mit Andreas Wirsching, dem Leiter des renommierten Instituts für Zeitgeschichte in München, über die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, über die Frage, ob der Aufstieg extrem rechter Gruppierungen heute mit der Spätphase der Weimarer Republik vergleichbar ist und ob es ein AfD-Verbot braucht.“

https://www.ardaudiothek.de/episode/die-entscheidung-politik-die-uns-bis-heute-praegt/die-entscheidung-aktuell/br24/14506891/



AN JENEM 29th APRIL

wurde Duke Ellington 46 und bekam zum Geburtstag endlich die Nachricht, amerikanische Truppen befreien das KZ Dachau nordwestlich von München, das KZ war kurz nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 errichtet worden, insgesamt waren in Dachau über 200’000 Menschen inhaftiert, 41’500 starben. Als die amerikanische Truppen das KZ befreien, befinden sich noch 32’000 Häftlinge im Lager. In einem Eisenbahnwagen, der neben dem Lager steht, stossen die US-Soldaten auf 2300 Leichen aus Buchenwald. Aus Wut exekutieren die Amerikaner zahlreiche SS-Männer. Im Jahr davor, im Juli 1944, hatte ein SS-Sturmbannführer in Hamburg einen verhafteten jugendlichen Jazzfan angebrüllt: Was mit Ellington anfängt, das hört mit dem Attentat auf den Führer auf! Aber auf dem Arm des Teenagers Jutta Hipp, die später eine bekannte Pianistin wurde, war bereits If It Ain´t Got That Swing tätowiert, das war lebensgefährlich, und auf dem Arm ihres Verlobten stand tätowiert die erste Zeile des Duke-Ellington-Hits It Don´t Mean A Thing – gleichbleibend aktuell auch was Wolfgang Pohrt zu einer Person schrieb: obgleich Publikationstiteln wie Der Führer schützt das Recht (1934) oder Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist (1936) Zweideutigkeit nicht vorgeworfen werden kann, gilt der Autor als umstritten – eine der Speerspitzen deutscher Geistergrößen, Carl Schmitt – und ebenfalls aktuell, was Wiglaf Droste eines Tages sagte, als er, durchaus wahrscheinlich, auch an den 29. April dachte, in Deutschland leben heißt knietief durch Kot waten – auch angesichts einer Meldung von heute, Einreisestopp für Migranten: Kann Dobrindt „liefern“? Ein „faktisches Einreiseverbot“ für Migranten hat CDU-Chef Merz ab dem Start seiner Kanzlerschaft versprochen, allerdings hatten auch die US-Soldaten an jenem 29. April keine Einreiseerlaubnis, als sie auch in Dachau etwas lieferten, was noch nicht von allen vergessen ist.



HÖLLENSCHLUND KZ FLOSSENBÜRG

Zur Geschichte des Konzentrationslagers Flossenbürg, das am 23. April 1945 von der US Army befreit wurde, ein Beitrag von Thies Marsen:

https://www.br.de/nachrichten/bayern/80-jahrestag-der-befreiung-hoellenschlund-flossenbuerg,UjCzTz8

(Auszug:) „Die Schutzstaffel (SS), die im ganzen Reich für Betrieb und Bewachung der KZ zuständig war, hatte sich seit Hitlers Machtübernahme zu einer weitverzweigten Organisation mit eigenen Wirtschaftsunternehmen entwickelt. Dazu gehörten auch die Deutschen Erd- und Steinwerke, für die Flossenbürg wegen seiner Steinbrüche von Interesse war. Um die dortigen Granit-Vorkommen auszubeuten, ließ die SS ab Mai 1938 das KZ Flossenbürg errichten. Dazu wurden zunächst rund 100 Gefangene aus dem KZ Dachau in die Oberpfalz deportiert. Ihre Zahl wuchs in den darauf folgenden Jahren kontinuierlich an. Die meisten wurden von den Nazis als sogenannte „Berufsverbrecher“ oder „Asoziale“ inhaftiert, ein Stigma unter dem viele Überlebende auch nach der Befreiung zu leiden hatten.“



DER PROBLEMLÖSER SAGT ES

Unter den Schauspielern ist er nicht nur der großartige und couragierte, sondern auch der intelligente und sprachgewandte, Samuel L. Jackson, und auch Germany sollte auf ihn hören:

„I´m 74. I don´t know how much longer I am going to be around here raising hell or doing what I´m doing. But people need to start understanding that the economic gap is crazy. I pay an enormous amount in taxes, and it´s fine because I know I should. But why can´t we get billionaires [dt. Milliardäre] to pay their f cking [so geschrieben] taxes? If those mother f ckers paid their taxes we´d solve a whole bunch of sh t. And they would still be richer than every mother f cker walking around them.“



AUSGERECHNET

heute am „Welttag der Poesie“ ist die Augsburger Abteilung der Artists Against Antisemitism in der Dießener Buchhandlung CoLibri ab 19h (auch mit Beiträgen, die irgendwas mit Poesie, allerdings nichts mit der bei gewissen Poeten beliebten Frühlingspoesie zu tun haben) – mit den Gästen Daniel Gitbud („Coffee with a Jew“) und BR-Journalist Thies Marsen, der

in der neuen Ausgabe 56 des wie immer empfehlenswerten bayrischen Magazins MUH mit einem langen Artikel über „Bayern unterm Davidstern – Der Freistaat als Ort jüdischen Neubeginns nach Weltkrieg und Shoah“ vertreten ist.

Dass sich Germania seit der Nazizeit wahnsinnig gut entwickelt hat, kann man hier nachlesen:

https://www.juedische-allgemeine.de/politik/knobloch-aus-angst-bestellen-juden-pizza-unter-falschem-namen/



HALTUNG (SELTEN)

Der bekannteste und beste kommunistische Publizist starb vor fünf Jahren, Hermann L. Gremliza, Herausgeber des Magazins konkret, das ich mir seit Jahrzehnten monatlich reinziehe, was aufgrund meiner schwachen Halbbildung keine lockere Sache ist. Seine politische Haltung war besonders und dieses Zitat dreht grade eine Runde, die größer sein könnte, aber eben nicht allzuviel Zustimmung bekommt:

„Israel ist der Staat, dessen ganzer Zweck der Schutz jüdischen Lebens ist. Verlören die Juden ihn, wären sie erneut den Launen der Antisemiten und anderer Proletarier aller Länder preisgegeben. Wer staatliche Herrschaft angreifen will, hat weltweit zweihundert Stück zur Auswahl. Eine Linke, die aus eigener Kraft so gut wie nichts mehr vermag, sollte wenigstens alles unterlassen, was Israel im Kampf um seinen Bestand behindern könnte.“

Das wurde zu seinem ersten Todestag (also vor vier Jahren, das ist zu beachten) in der Jüdischen Allgemeinen genauer beschrieben: „(…) Diese Haltung, die auch die Linie der von ihm 45 Jahre lang herausgegebenen Monatszeitschrift »konkret« war, trug mit dazu bei, Gremliza in der deutschen Linken zu isolieren. Das war ein Preis, den er gern zahlte. Er war sich seiner politischen Erfolglosigkeit bewusst; gelegentlich kokettierte er sogar damit. Paradoxerweise war es ausgerechnet seine Haltung zu Israel, mit der er tatsächlich reale Wirkung hatte. Die israelsolidarische Linke, die es so nur in Deutschland gibt, hat Hermann L. Gremliza maßgeblich geprägt. Diese zahlenmäßig zwar kleine, aber politisch einflussreiche Strömung ist sein Erbe. Sie reicht von den Universitäten, wo prozionistische linke Gruppen an vorderster Front gegen die Israelboykottbewegung BDS kämpfen, über Medien wie »konkret« und »Jungle World« bis inzwischen hinein in Bundestagsparteien (…)“ (Michael Wuliger)

https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/ein-kommunist-fuer-israel/



ES IST KEINE ERFINDUNG

von mir, ich schwöre: als ich heute mal wieder die 18-Uhr-TV-Nachrichten des Bay.Rundfunks anschaute, handelte der erste Beitrag dieser von angeblichen Journalisten hergestellten „Abendschau“ von einer entlaufenen Katze mit einer Länge von über 4 Minuten. Der folgende Beitrag von einem Drecksprovinznest, wo einige Leute immer Anfang Dezember ins Wasser gehen…

Ich erinnerte mich an die alte Forderung von schlecht integrierten Deutschen wie mir, man solle Bayern abschaffen. Immer noch gute Idee, vielleicht nach Thüringen oder sowas verschenken. Den Etat des BR-Fernsehens spenden, von mir aus dem FCBayern, irgendwas Sinnvolles, auch Feuerwerkskörper oder so.



KONTRAFAKTISCHES QUERGEDENKE (IN EINEM BRIEF AUS MARSEILLE)

Wie immer sensationell gut: die jetzt am Kiosk liegende jährliche Sonderausgabe des Wochenblatts Jungle World, für die die Zeitungsleute woanders hingehn, um zu schauen und zu berichten: diesmal Marseille und aus allen Blickwinkeln Marseille. (Wo ich mich übrigens deshalb wahnsinnig gut auskenne, weil ich ein paar tausend Seiten von Jean-Claude Izzo gelesen habe).

In der Ausgabe aber natürlich auch ein Blick auf deutsches Krisengebiet: Markus Liske analysiert schärfstens die Partei Die Linke (die sich „weiterhin als eine Art Sammelbecken für alle [sieht], die sich selbst als »links« definieren, ganz gleich, was sie darunter jeweils verstehen mögen“). Ein Auszug:

„18.41 Uhr am 1. Oktober 2024: Die israelischen Streitkräfte melden den Beginn eines heftigen iranischen Raketenangriffs auf israelische Städte. Wenig später folgt die Meldung eines Terror­attentats im Tel Aviver Stadtteil Jaffa mit sechs Toten und mindestens 17 Verletzten. Nahezu gleichzeitig, um 18.55 Uhr, fordert die frühere Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete auf der Plattform X die Regierungen der EU und der USA auf, jegliche Waffenexporte und sonstige Unterstützung Israels zu stoppen. Offenbar ist sie überzeugt, dass der Nahe ­Osten ein wahres Kuschelparadies sein könnte, würde man Israel einfach der Möglichkeit berauben, sich gegen das islamistische Regime im Iran und die von ihm unterstützten Terrororganisationen Hamas und Hizbollah zu wehren.

Als Einzelmeinung wäre das keine größere Aufregung wert. Die sogenannten sozialen Medien werden ja nicht erst seit gestern mit allerlei kontrafaktischem Quergedenke gefüttert, und Israel ist ebenfalls nicht erst seit gestern eine beliebte Projektionsfläche für Leute, die zur Sühne der Kolonialverbrechen ihrer Ururgroßväter gerne einen Sündenbock im Hier und Jetzt hätten. Doch Rackete ist keine x-beliebige ­Aktivistin, sondern seit diesem Jahr Abgeordnete im Europaparlament für die Linkspartei, die – so steht es jedenfalls im Parteiprogramm – »für das Existenzrecht Israels« eintritt. Wie geht das zusammen? Die Antwort: gar nicht.“

Der ganze Desaster-Bericht auch online:

https://jungle.world/artikel/2024/41/linkspartei-vorstandswahl-pluralistisch-in-den-untergang

(Und mein Geschenk für Ihr Poesiealbum: Die Linke ist so links wie die CSU christlich.- Nichts zu danken.)



ETWAS ÜBER DIESE WÖLFE

diese nicht erst seit aktuellem Fußball berüchtigten „Grauen“ nämlich, hat Deniz Yücel genauer und ausführlicher als andere Journalist*innen geschrieben. Yücel (Jungle World-CoHerausgeber, PEN-Berlin-Sprecher, als Welt-Korrespondent aufgrund seiner Artikel ein Jahr ohne Anklage im türkischen Knast) hat seine Analyse am 7.7. komplett auf f-book veröffentlicht, deshalb auch hier in voller Länge (ohne die im Text gekennzeichneten Fotos), mit seinem Schlusswort hier zuerst als Einleitung:

„Aus alledem kann man Gründe für oder gegen ein Verbot der Grauen Wölfe und/oder ihrer Symbole ableiten. Aber vielleicht hilft dieser Exkurs zu verstehen, warum in der Türkei nicht allein Anhänger von AKP/MHP, sondern auch manche Außenstehende nicht Demirals Geste, sondern die Sanktionen der Uefa und die Kommentare deutscher Politiker für einen Skandal halten.“

„Aus gegebenem Anlass (#01) ein mittellanger Exkurs zu dem, was die „Grauen Wölfe“ sind – und dazu, was sie auch, kaum, weiterhin, nicht und inzwischen sind. (Wie gestern auf Twitter, aber ausführlicher. Und mit Bildern. Dafür die Fotos durchklicken.)
Zunächst eine Begriffsklärung: Die Bezeichnung „Grauen Wölfe“ ist eher im Ausland verbreitet, in der Türkei geläufiger ist die Eigenbezeichnung Ülkücü („Idealisten“), die sowohl allgemein die Bewegung bzw. Denkrichtung meinen kann als auch die „Idealistenvereine“, den Jugendverband der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Ich verwende hier Graue Wölfe und Ülkücü synonym.
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Die Grauen Wölfe sind rechtsextrem, aber als „Aggregatzustand der türkischen Rechten“ (Tanıl Bora) neben Konservativismus und Islamismus ein anerkannter Teil des politischen Establishments.
Tayyip Erdoğan regiert spätestens seit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 in einer informellen Koalition mit der MHP. Die MHP stellt keine Minister, hat aber zahlreiche Kader im Staatsapparat verteilt. In dieser informellen Koalition repräsentiert sich die MHP selbst, fungiert aber auch als Stellvertreter des alten Staatsapparats, mit dem sich Erdoğan versöhnt hat.
Allerdings ist dies nicht die erste Regierungsbeteiligung der MHP. In den späten 70ern bildeten der Konservative Süleyman Demirel und der Islamist Necmettin Erbakan zwei offizielle Koalitionsregierungen mit MHP-Chef Alparslan Türkeş (Regierungen der „Nationalistischen Front“, #02); Ende der 90er regierten der Sozialdemokrat Bülent Ecevit und der Konservativ-Liberale Mesut Yılmaz mit dem heutigen MHP-Chef Devlet Bahçeli (#03).
Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit im damals noch mächtigen Parlament verlor, zeigte sich selbst die linke/prokurdische HDP offen für eine Zusammenarbeit mit CHP und MHP (z.B. in Form einer geduldeten Minderheitsregierung). Nur Devlet Bahçeli lehnte strikt ab – der Beginn seiner Annäherung an Erdoğan.
Ein Teil derer, die sich heute als Graue Wölfe verstehen, ist in der MHP und mit Erdoğan verbündet. Ein anderer Teil der Ülkücü-Bewegung, die von Meral Akşener (#04) gegründete „Gute Partei“ etwa, steht in Opposition zu Erdoğan.
Nicht alle Ülkücü sind parteipolitisch organisiert, es gibt auch nicht-organisierte, eher popkulturell mit den „Grauen Wölfen“ verbundene Leute. Dies könnte auch beim Fußballer Merih Demiral der Fall sein, aber genaueres weiß ich über ihn leider nicht.
Jedenfalls zeigt nicht nur Erdoğan seit seinem Bündnis mit der MHP immer wieder mal den Wolfsgruß (#05). Auch von Politikern der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, darunter dem langjährigen Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu (#06) oder dem Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu (#07), sind entsprechende Auftritte dokumentiert. Oder von Mansur Yavaş (#08), Oberbürgermeister von Ankara, ebenfalls ein potenzieller Kandidat der CHP bei der Präsidentschaftswahl 2028 – und bis zu seinem Übertritt 2013 MHP-Kommunalpolitiker.
Bei Kılıçdaroğlu oder Imamoğlu kann man davon ausgehen, dass diese Gesten bloß dazu dienten, Sympathien von enttäuschten MHP-Anhängern zu gewinnen. Trotzdem mögen diese Bilder zeigen, dass der Wolfsgruß in der Türkei nicht überall verpönt ist – wie zur MHP, trotz ihrer gewalttätigen Geschichte und ihren Verbindungen zur organisierten Kriminalität, noch nie eine „Brandmauer“ (#09) existierte.
Auch auf einem DER ikonographischen Fotos des Gezi-Aufstands von 2013 ist ein Wolfsgruß zu sehen: Bei einem Polizeieinsatz auf dem Taksim-Platz fliehen zwei junge Männer Hand in Hand vor dem Tränengas. Einer trägt eine Fahne der prokurdischen BDP (später HDP, heute DEM), der andere eine türkische Fahne mit Atatürk-Porträt. Ein dritter streckt der Polizei trotzig den Wolfsgruß entgegen. In den Tagen von Gezi wurde dieses Bild von allen gefeiert: als Ausdruck für Vielfalt und Einheit der Protestbewegung (#10).
Nicht ganz so bekannt, aber in die gleiche Richtung: ein kurzes Video nach dem Sieg von Imamoğlu bei der wiederholten Kommunalwahl im Juni 2019: Hinten tanzen Leute zu einer bekannten kurdischen Musik, vorne posiert jemand mit Imamoğlu-Fahne und Wolfsgruß (#11).
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Nancy Faeser u.a. haben die Grauen Wölfe als „rassistisch“ bezeichnet; auch für die Uefa dürfte der Rassismus-Vorwurf eine wichtige Rolle bei der Strafe für Demiral gespielt haben.
Zweifelsohne haben die Grauen Wölfe eine rassistische Note. Reine völkische Nationalisten waren ihre ideologischen Vorläufer, die nicht zuletzt von Nazideutschland inspirierten „Turanisten“ der 40er Jahre (#12). Dieses ideologische Element ist nicht ganz verschwunden, aber heute innerhalb des Ülkücü-Spektrums marginal.
Vielmehr haben die Ülkücü eine Art radikale Version des kemalistischen Nationalismus entwickelt. Selbst in den eigenen Reihen werden Kurden (theoretisch sogar Armenier) akzeptiert, sofern sich diese im nationalstaatlichen Sinn als Türken begreifen.
Ähnlich kompliziert das Verhältnis zum politischen Islam: Die Turanisten waren Atheisten bzw. suchten Anleihen an der vorislamischen türkischen Mythologie. Für Nihal Atsız (#13), den wohl wichtigsten Vordenker der Bewegung, wäre „Islamkritiker“ eine allzu vorsichtige Beschreibung. Zu diesen Anleihen aus vorislamischen Mythologie gehört auch der Wolfsgruß, der allerdings erst in den 90ern populär wurde.
Bald nach der Gründung der MHP 1969, wandte sich Parteichef Türkeş vom reinen Turanismus ab und erklärte die „Türkisch-Islamische Synthese“ zur Parteiideologie, was zum Bruch mit Atsız führte. Türkeş wollte seine Doktrin von den „Neun Lichtstrahlen“ als genuin türkisches politische Lehre verstanden wissen, in Abgrenzung gegen alle „ausländischen“ Ideologien (Kommunismus, Liberalismus und Faschismus). In der Praxis das wichtigste ideologische Element blieb damals der Antikommunismus.
Heute haben die Anhänger der Ülkücü in Zentralanatolien und am Schwarzen Meer einen eher religiös-nationalistischen Lebensstil, in Thrazien, der Ägäis- und Mittelmeerküste eher einen säkular-nationalistischen.
Was diese disparaten Tendenzen vereint und den eigentlichen ideologischen Kern der Ülkücü ausmacht, ist eine mythische Verklärung des „starken“, autoritären (türkischen) Staates. Erst auf dieser Grundlage ist das Kunststück möglich, sich gleichermaßen auf das Osmanische Reich wie auf dessen Liquidator, Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, zu beziehen. Oder auf die osmanischen Kalifen und die vormuslimischen türkischen Stammeskulturen.
Fun Fact am Rande: MHP-Chef Bahçeli (#14) heißt mit Vornamen Devlet, auf Deutsch „Staat“ – selbst nach Maßstäben der extravaganten neotürkischen Vornamen außergewöhnlich extravagant. (Bahçeli bedeutet wiederum „mit Garten“).
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Die andere Seite dieser Staatsverklärung: Hass und immer wieder Gewalt gegen alle, die man für „Staatsfeinde“ hält: Kommunisten, Sozialisten, Liberale und – sofern diese politische Rechte beanspruchen – Aleviten, Kurden, Armenier, Juden, Aramäer… Stets in der Selbstgewissheit, die „Existenz des Staates“ zu verteidigen.
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Diese Staatsverklärung hängt eng mit der Geschichte der MHP zusammen: Türkeş und die meisten anderen Parteigründer waren Militärs mittlerer Ränge, die 1960 am Putsch beteiligt waren (#15), aber später von den linkskemalistischen Kräften aus der Junta gedrängt wurden.
Umgekehrt war das Verhältnis des Staates zur Ülkücü-Bewegung oft eng, aber nicht ungebrochen. In den 70ern lieferte sich die MHP-Jugendorganisation blutige Auseinandersetzungen mit teils ebenfalls bewaffneten Linken, verübten aber auch Terroranschläge auf Journalisten (#16) oder Gewerkschafter (#17).
Manche, darunter Cem Özdemir, fanden es besonders geschmacklos, dass Demirals Wolfsgruß auf den Jahrestag des Pogroms von Sivas vom Juli 1993 (35 Tote) fiel.
Tatsächlich haben Ülkücü-Anhänger Pogrome gegen die alevitische Bevölkerung zu verantworten. Aber nicht unbedingt Sivas. Dieses von der Staatsmacht geduldete Massaker wurde von Islamisten organisiert; Anlass die Veröffentlichung von Passagen aus Salman Rushdies „Satanischen Versen“ in einer linken Zeitung.
Die anti-alevitischen Pogrome, die von militanten Ülkücü organisiert wurden, liegen länger zurück: Kahramanmaraş (Dezember 1978, über hundert Tote; #18) und Çorum (Juli 1980, 57 Tote; #19).
Einer der berüchtigtsten Killer aus den Reihen der Grauen Wölfe sollte bald daruf weltberühmt werden: Papst-Attentäter Mehmet Ali Ağca (#20).
Für bestimmte Kräfte innerhalb des Staatsapparats waren diese militanten Rechtsextremisten Teil einer „Strategie der Spannung“. Nach dem Putsch vom September 1980 wurde auch sie verhaftet, neben Linken wurden auch einige Ülkücü-Anhänger hingerichtet (#21). Putschistenführer Kenan Evren erklärte die „Türkisch-Islamische Synthese“ zur Staatsdoktrin; „unsere Ideen sind an der Macht, wir sind im Knast“, klagte Türkeş.
Dann, in den 80er und 90er Jahren, rekrutierte man militante Ülkücü-Anhänger für Todesschwadronen gegen die PKK, aber auch gegen Mitglieder der kurdischen Zivilgesellschaft (#22). Unter den Angehörigen der offiziellen wie der informellen Anti-Terroreinheiten tummeln sich bis heute zahlreiche Rechtsextremisten.
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Der Krieg im kurdischen Südosten schuf eine eigene Kriegsökonomie, in der eine Ülkücü-nahe Mafia entstehen konnte.
Der erste Mafiapate der Grauen Wölfe war Abdullah Çatlı, in den 70ern ein maßgeblicher Verantwortlicher der militanten MHP-Jugend, später als Drogenhändler von Interpol gesucht, eng mit Kräften im Staatsapparat verwoben, was im Februar 1996 mit dem Sususluk-Skandal ans Tageslicht kam.
Bis heute ist ein nennenswerter Teil der organisierten Kriminalität in der Türkei eng mit den Grauen Wölfen verknüpft.
Der wohl wichtigste Ülkücü-Pate der Gegenwart: Alaattin Çakıcı, mit dem MHP-Chef Bahçeli gerne posiert (#24).
Ein anderer Mafia-Boss und Grauer Wolf: Sedat Peker (#25). Vor etwa zehn Jahren erklärte er während eines Gefängnisaufenthalts seine Loyalität zu Erdoğan. Im Frühjahr 2021 wandte er sich wieder von ihm ab und begann mit einer spektakulären Serie von Enthüllungsvideos Erdoğan und einige von dessen engsten Vertrauten unter Druck zu setzen. Dabei belastete er sich auch selbst, indem er u.a. erklärte, welche Übergriffe und Einschüchterungsaktionen gegen Oppositionelle er im Auftrag des Regimes durchgeführt habe.
Auch sonst hat die Bewegung der politischen Gewalt nie gänzlich abgeschworen. Der damals 16-jährige Mörder, der im Januar 2007 in Istanbul den türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink (#26) erschoss, kam aus den Reihen einer anderen (heute ebenfalls mit Erdoğan verbündeten) MHP-Abspaltung. Hintergründe und Auftraggeber wurden nie geklärt.
Das letzte Opfer: Sinan Ateş (#27), ehemaliger Chef der MHP-Jugendorganisation und als potenzieller Bahçeli-Nachfolger gehandelt, wurde im Dezember 2022 auf offener Straße in Ankara von den eigenen Leuten ermordet.
Für die Verwicklung von hochrangigen MHP-Politikern und Polizisten in den Ateş-Mord gibt es himmelschreiende Indizien. Trotzdem – genauer: gerade deshalb – ist die Anklageschrift gegen die ausführenden Killer eine Farce.
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Zusammengefasst: Die Ülkücü (Grauen Wölfe) sind heute Teil der Regierung oder in der Opposition, im Staatsapparat gut organisiert, in der Polizei schon lange, neuerdings auch in der Justiz. Sie sind Teil der organisierten Kriminalität und zugleich Teil der Popkultur (#28, #29), nicht zuletzt unter Fußballfans (#30)
Aus alledem kann man Gründe für oder gegen ein Verbot der Grauen Wölfe und/oder ihrer Symbole ableiten. Aber vielleicht hilft dieser Exkurs zu verstehen, warum in der Türkei nicht allein Anhänger von AKP/MHP, sondern auch manche Außenstehende nicht Demirals Geste, sondern die Sanktionen der Uefa und die Kommentare deutscher Politiker für einen Skandal halten.
Das Thema wird bleiben, selbst wenn dieser junge Mann (#31) und seine Teamkollegen es heute Abend für die Europameisterschaft beenden sollten.“