DER KOMMISSAR VOM SCHWARZEN SEE

Nachdem wir im Norden Montenegros den „schwarzen See“, den 1400m hoch gelegenen Gletschersee Crno Jezero in der Nähe von Bijelo Polje besucht hatten, wurden wir auf dem Weg zurück zur Brücke über den Tara Canyon von einem Streifenpolizisten rausgewunken. Unser serbisches Nummernschild, sagte der Fahrer. Er blieb ruhig und gab ihm alle Papiere. Sie redeten. Der Polizist gab ihm die Papiere zurück und sie redeten weiter. Dann telefonierte der Polizist und der Fahrer lachte. Was ist denn los? Er hat gesagt, sein Chef muss heute auch nach Belgrad, ob wir ihn mitnehmen könnten. Wir konnten. Hättest du auch nein sagen können? Klar, sagte der Fahrer. Eigentlich hätte er niemanden mitnehmen dürfen, weil es ein Firmenauto war … was heißt hier eigentlich!

Der Polizist fuhr los, um den Chef abzuholen. Wir genossen die Aussicht über die ganze Hochebene, an deren Ende schneebedeckte Berge standen. Wer´s nicht in den Himalaya schafft, kann es sich hier ansehen.

Der Kriminalkommissar sah aus, wie man sich in Deutschland einen SEK-Mann in der Freizeit vorstellt: Turnschuhe, Trainingshose, Kapuzenjacke, Sporttasche, Haare etwa 0,5mm. Wir platzierten ihn neben dem Fahrer, sie konnten sich unterhalten. Der Kommissar sagte ihm, wo das Tempolimit kontrolliert wurde und wo er wieder auf die Tube drücken konnte, und er kannte die Wirtschaft an der Strecke, wo wir was essen sollten. Der Fahrer übersetzte, dass der Kommissar und seine Leute es seit einiger Zeit verstärkt mit deutschen Touristen zu tun hatten, die sich in der Natur dumm verhielten und gerettet werden mussten. Die beiden unterhielten sich so gut, dass wir kaum was übersetzt bekamen.

Der Fahrer aß dann wie immer Cevapi und rührte, wie der Kommissar, den Salat nicht an. Ich habe vergessen, was ich gegessen habe, aber es war gut. Meine Frau hatte Fisch, der auch gut war. Warum kann ich mich an ihr, aber nicht an mein Essen erinnern? Der Kommissar telefonierte viel. Falls ich´s richtig verstanden habe, hatte er Urlaub und fuhr zu seiner Frau nach Belgrad, wo er mal einige Zeit als Security an der montenegrinischen Botschaft eingesetzt war. Ich fragte mich, ob man ihn strafversetzt hatte. Im Film landet der Kommissar dann ja immer in der Natur; kann mich an keinen umgekehrten Fall erinnern.

Der Fahrer war so begeistert wie verblüfft, dass im Fernseher dieses Restaurants an der Straße doch tatsächlich eine Doku über Pina Bausch lief und erzählte dem Kommissar einiges über die Tänzerin und Regisseurin, von der auch ich keine Ahnung hatte (außer Wuppertal, das hat man sich gemerkt). Der Grund wurde nicht herausgefunden, also warum diese Doku a) mitten am Nachmittag lief und b) hier im Fernseher.

Der Kommissar stieg ziemlich am Anfang in den Blockbergen von Belgrad aus. Zuletzt gab er dem Fahrer seine Karte. Super, sagte der Fahrer, sollte ich in Montenegro jemals ein Problem haben, soll ich ihn anrufen. Ich musste daran denken, dass der Bibliotheksleiter mit dem stellvertretenden deutschen Botschafter viel über Politik diskutiert hatte; bald würde darüber abgestimmt werden, ob sich Montenegro auf die Seite Rußlands oder der EU stellen würde; der Bibliotheksleiter hoffte auf die EU und befürchtete, dass es im Moment nicht besser als 50/50 stand. Der Botschafter erklärte mir, dass Montenegro ein unbedeutendes Land war, allerdings mit einem Zugang zum Meer, an dem Rußland sehr interessiert war. Auf der Fahrt durch die Berge viele Häuser und Hütten, die nach Armut aussahen, und der Fahrer erzählte, dass es hier Wölfe und Bären gab und jeder eine Waffe hatte. Der Kommissar erzählte, dass hier jeder legal Schnaps brannte (was ja in der EU nicht so gern gesehen wird); bei Andrzej Stasiuk in Fado gelesen, dass hier noch das Gesetz der Blutrache galt und dass es nirgendwo in Europa innerhalb weniger Kilometer so riesige Unterschiede zwischen arm (Berge) und reich (Küste) gab bzw. einem Leben, das wie seit Jahrhunderten ablief, und einem, das wie in einem topmodernen TV-Magazin aussah … Es konnte also auf keinen Fall was schaden, wenn man einen Kommissar in Montenegro kannte, dem man mal geholfen hatte.

Inzwischen war es Nacht, wir waren seit zehn Stunden unterwegs, am Bahnhof wurde der Verkehr nervenzerfetzend zäh, die Arschloch!-Rufe des Fahrers häuften sich – und dann reichte es ihm plötzlich, er zischte ab wie in einem Highway-Cop-Film, überholte alles auf Teufel-komm-raus und brach in wenigen Minuten einen Berg von Verkehrsregeln. Dennoch hatten wir auch ohne den Kommissar überhaupt keine Angst.

Später gab es keine Einigung über die Frage, ob die spontane Mitfahrgelegenheit für den Kommissar typisch Balkan oder typisch Montenegro war. Und wenige Tage später bekam ich sogar noch eine verblüffende Polizeistory …

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