60 JAHRE WIGLAF DROSTE

Heute hätten wir seinen 60. gefeiert, wenn Wiglaf Droste nicht vor zwei Jahren mit dem letzten Nachtzug abgefahren wäre. Für die auto/biografische Sammlung „Chaos, Glück und Höllenfahrten“ (Edition Tiamat, 2021) habe ich diesen Besinnungsaufsatz geschrieben:

WEGE ZUM RUHM

Das Benno-Ohnesorg-Theater hatte mich als Gast in seine nächste Vorstellung im Eiszeit-Kino eingeladen. Als ich am Vorabend in Kreuzberg landete, spürte ich die starke Rückendeckung der Theaterleitung Droste & Stein, hatte aber auch die Befürchtung, dass ich als Bayer in der linken Berliner Unterhaltungsszene keinen Punkt machen würde, sondern bestenfalls eine dieser Erfahrungen, die auf dem Wege zum Ruhm besonders wertvoll sind.

Nachdem ich an der Wohnungstür geklingelt hatte, näherten sich schwere Schritte und jemand schrie: „Herein, wenn´s kein Nazi ist!“ Dann riss Wiglaf die Tür auf und sagte grinsend und mit ausgebreiteten Armen: „Achtung, wir sind in Kreuzberg.“

An diesem Abend hörte ich zum ersten Mal, dass es hier eine sogenannte Kiezmiliz gab, Tugendwächter, die scheinbar links waren, tatsächlich aber mit faschistischen Methoden gegen Personen und Einrichtungen vorgingen, die nicht in ihr beschränktes Ordnungssystem passten. Diese Typen hatten Wiglaf im Visier, nachdem er den Text „Der Schokoladenonkel bei der Arbeit“ mit dem Untertitel „Eine Opferrolle vorwärts“ veröffentlicht hatte. Die Anklage lautete, er würde Kindesmissbrauch verharmlosen und Leute diskreditieren, die potentielle Täter schon im Vorfeld zu entlarven versuchten, um potentielle Opfer zu schützen. Dass man in einem Vorfeld mit Vorverurteilungen extrem vorsichtig sein sollte, wusste ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen in der bayerischen Provinz. Der ganze Wahnsinn dieser Kiezmiliz wurde mir erst später klar, als ich Jane Kramers lange Reportage „Krach in Kreuzberg“ las, die sie schon Ende der Achtzigerjahre veröffentlicht hatte.

Als wir bis zur Geisterstunde geredet, gegessen und getrunken hatten, rieb sich Wiglaf die Hände und meinte, er müsste sich jetzt zurückziehen, um einen Artikel zu schreiben, dessen allerletzten Abgabetermin er gestern überschritten hätte. Es handelte sich dabei nicht um irgendeinen Artikel, sondern er war für ein Magazin, in dem er endlich mal veröffentlichen wollte. Seine Freundin und ich hatten Verständnis. Fünf Minuten später kam er zurück und sagte: „Ich hatte die schöne Idee, dass morgen auch noch ein Tag ist, die kriegen das morgen, das reicht noch dicke.“ Er hatte selbst als Redakteur gearbeitet und kannte sich mit Deadlines aus. „Wenn sie dir sagen, dass die Hütte brennt, heißt das, dass du noch eine Woche Zeit hast.“

Am nächsten Tag trafen wir uns nachmittags mit Michael Stein, um einen genauen Plan für den Abend zu machen. Als wir das nach einer Zigarette erledigt hatten, beschlossen wir, uns mit einem langen Marsch an der frischen Luft vorzubereiten. Bald stromerten wir durch den tiefsten Osten von Berlin, dessen hohe und häufig ramponierte Häuserwände und verschachtelte Hinterhöfe mich an die Gebirge und Schluchten meiner Heimat erinnerten und mir gefielen.

„Gibt´s hier auch diese Kiezmiliz?“, fragte ich Michael Stein. Er lachte und sagte: „Die Kreuzberger haben hier nichts zu melden, falls die jemals auf die Idee kommen, ihr Dorf zu verlassen, das kann ich dir glaubwürdig versichern.“

Die erste Kneipe, in der wir Pause machten, war voller Arbeiter oder rausgeworfener Arbeiter, die nicht so aussahen, als würden sie die Beine in die Hand nehmen, wenn sie mit irgendeiner Miliz ohne Maschinenpistolen konfrontiert wären, und in der zweiten war es so ähnlich. Aus Wiglafs Plan, den Artikel in den zwei toten Stunden vor der Show zu schreiben, wurde nichts, obwohl Stein und ich keinen Gruppenzwang ausübten, und er nahm sich vor, nach dem ganzen Theater um pi mal Daumen 0100 Uhr am Schreibtisch zu sitzen und das Ding durchzuziehen. Es war 0330, als wir uns an den Aufstieg zu seiner Wohnung machten; er freute sich darauf, den Artikel, den er fertig im Kopf hatte, endlich zu schreiben. Zum Abschluss des gelungenen Abends setzten wir uns an den Küchentisch, um noch schnell mit einem letzten Glas Weißwein anzustoßen, zwei zufriedene Männer.

„Weißt du, was ich denke?“, sagte Wiglaf. „Wir sehn uns doch so selten, und wir werden noch viele Artikel schreiben, immer diese Artiiikääl!“

Die Sonne hatte ihren Höhepunkt überschritten, als ich mich auf die Suche nach Wasser machte. Wiglaf hatte das Gebäude verlassen. Das Telefon ratterte und ich ging ran. Es war der Herausgeber des Magazins. Er sprach ruhig und sachlich. Er saß seit zehn Minuten in dem Café, in dem er mit Wiglaf verabredet war und wollte wissen, ob er noch auftauchen würde. Ich konnte ihm versichern, dass der Autor irgendwo da draußen war.

Tags: