Literatur

SOMMER MIT NANCY & SID

Unser Freund Klaus Bittermann hat nicht nur einen Truck Bücher verlegt, sondern nach seinen so komischen wie erfolgreichen Kreuzberg-Anekdoten (z.B. „Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol“) endlich wieder einen Roman geschrieben (in einer Besprechung war zu lesen, es sei sein erster, aber das stimmt nur, wenn man nicht bemerkt hat, dass er unter dem Pseudonym Artur Cravan drei tolle Polit-Thriller veröffentlicht hat). Weil wir es keinen Funken besser sagen könnten als Frank Goosen, blenden wir seine Besprechung hier in voller Länge ein:

„Sie suchen noch ein Buch für den Urlaub, haben es aber nicht so mit dem Zeug, das in den großen Buchhandlungen stapelweise im Eingangsbereich herumliegt? Dann empfiehlt Ihr freundlicher Literaturdienstleister heute mal „Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück“ von Klaus Bittermann. Bittermann ist laut Klappentext eine „Verlegerlegende“. Dass er den Text wahrscheinlich selbst geschrieben hat, ändert nichts am Wahrheitsgehalt dieses Satzes. Seit 37 Jahren betreibt er den Kleinverlag edition tiamat, und das tut er ganz alleine.

„Sid Schlebrowski“ ist die Geschichte von zwei Kids, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Sid, der eigentlich Michael heißt, sich aber nach Sid Vicious von den Sex Pistols nennt, ist ein schüchterner, minderjähriger Provinzpunk mit einem saufenden Vater, der mal Boxer war. Nancy heißt wirklich so, ist auch erst sechzehn und stammt aus einer wohlhabenden Adelsfamilie. Der Roman spielt hauptsächlich im Sommer 1980 und beginnt, als Sid in den schwarzen Citroen steigt, den Nancy ihrem Vater geklaut hat, aber das ist nicht das richtige Wort, eigentlich war das eine Enteignungsaktion.

 Die beiden ziehen durch Süddeutschland, Österreich und Italien, logieren in Luxushotels und reisen ab, ohne zu bezahlen. Sie erleichtern Menschen, die es sich leisten können und die meistens auch einiges auf dem Kerbholz haben, um Geld, Schmuck und teure Klamotten. Unterwegs treffen sie immer wieder auf Menschen, die ihnen helfen: ein kommunistisches Ehepaar, das im spanischen Bürgerkrieg gekämpft hat oder einen Tankwart, der über den Tod seines Sohnes noch lange nicht hinweg ist und Fahrer einer bestimmten Automarke einfach nicht ausstehen kann, weshalb er Sid und Nancy davonkommen lässt, als sie auch an der Tankstelle das Bezahlen unterlassen. Das alles basiert auf einer alten Zeitungsmeldung, die Bittermann jahrzehntelang aufbewahrt hat, ist also so (oder so ähnlich) tatsächlich passiert.

Das Buch durchzieht ein steter Hauch von Anarchie. Bittermann hat ein großes Herz für die Ausgestoßenen, Nicht-Angepassten, die Outlaws. Man wird ganz wehmütig und möchte beim Lesen die ganze Zeit Udo Lindenberg singen, das Lied von den zwei Geflippten, die durch nichts zu bremsen sind, aber das wäre als musikalische Analogie vielleicht zu platt. Und deshalb ist ein zentrales Stück in diesem Buch „Searching for a heart“ von Warren Zevon: „Certain individuals aren’t sticking with the plan“. Das ist zwar von 1991, aber das Buch endet ja auch nicht in dem Jahr, in dem es angefangen hat. Und da Klaus Bittermann, obschon seit Äonen in Berlin ansässig, Anhänger des BVB ist, darf man auch noch vermuten, dass der Held seines Romans nicht zufällig den Namen von Elwin Schlebrowski trägt, einem Mitglied der Dortmunder Meistermannschaft von 1956.

Ein Buch, das einen nachdenken lässt, ob man nicht mal wieder ein teures Auto anzünden sollte. Muss ja nicht das eigene sein.“ (Ausblende Goosen)

Außerdem können Sie online beim Freitag Bittermanns Essay zu Lenny Bruce´ 50. Todestag nachlesen (oder auch den Text in voller Länge in seiner Sammlung „The Crazy Never Die – Amerikanische Rebellen in der populären Kultur“):

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/fuck-aus-dem-off

  gebrauchtes Buch – Cravan, Artur – Tod in der Schonzeit



SCHOCK / HANS FRICK (7)

„Am 22. März 1944, während eines schweren Luftangriffs, erfuhr ich, was ich schon lange geahnt hatte, nämlich, daß er Jude und ich somit Halbjude war. Während die Flak schoß, in der Nähe Bomben einschlugen und Häuser einstürzten, sprachen wir im Luftschutzkeller über meinen Vater. Meine blinde und krebskranke Großmutter lag, am ganzen Körper zitternd, auf einem Strohsack, die Hausbewohner schrien. Manche knieten und beteten. Meine Mutter aber war ganz ruhig, das Inferno schien sie nicht zu berühren. Ich nahm es wahr, aber mehr wie Hintergrundgeräusche. Der Schock, den die Gewißheit, Halbjude zu sein, in mir ausgelöst hatte, war viel größer als die Angst.“ – Hans Frick (*3.8.1930), Die blaue Stunde, 1979

Bildergebnis für hans frick bücher die blaue stundeDie Flucht nach Casablanca: Frick, Hans:

HANS FRICK



PROBLEMZONE LITERATUR UND PROBLEME

Für die neueste Ausgabe hat der Freitag „zehn Personen des öffentlichen Lebens“ gefragt, welche Bücher sie im Urlaub lesen. Die Theaterregisseurin Angela Richter antwortete u.a. dieses: „… mein Gehirn erträgt nur noch Sachbücher. Früher las ich viel Literatur (…) Warum hat das aufgehört? Ich vermute, dass mein Gehirn keine Lust mehr hat, sich mit Problemen zu befassen, die von Schriftstellern ausgedacht wurden, egal wie gut geschrieben sie sind.“

Das ist nicht nur respektabel und interessant, sondern zeigt ein herausragend naives Kunstverständnis. Und davon abgesehen, habe ich in meinem Leben noch keinen großen Autor gelesen bzw. kennengelernt, der irgendein Problem erfunden hätte. Frage mich jetzt natürlich wie so oft, ob ich immer der falschen Literatur zugeneigt war und ob ich immer die falschen Autoren kennengelernt und mich, und da wird´s richtig schlimm, vielleicht sogar mit ihnen angefreundet habe.



LANGWEILIGER NACHMITTAG FÜR ROCKFORD

von Knarf Rellöms Album Fehler Is King ist einer der komischsten Tracks der tanzbaren Krautrockgeschichte, könnte man sagen, mit dem „Text“ von Alfred Hilsberg. Den Clip haben wir anlässlich einer Veranstaltung zur Hilsberg-Biografie von Christof Meueler erstellt. Ein tanzbares Museum ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

https://www.youtube.com/watch?v=R25IWsSNzew&feature=youtu.be



LACHEN MIT MÜHSAM

Erich Mühsam, der heute vor 82 Jahren im KZ Oranienburg ermordet wurde, war ja nicht nur einer der Literaten, die vor 100 Jahren für ein besseres Bayern gekämpft haben, sondern auch der Karl Valentin unter den nicht nur schreibenden Revoluzzern. Hier ein Stamperl aus der im Verbrecher Verlag erschienenen wunderbaren Sammlung „Das seid ihr Hunde wert!“:

EISENBAHNROMAN

Sie brauchten nirgends umzusteigen.

Drum gab sie sich ihm stumm zu eigen.

Doch weil verkehrt die Weichen lagen,

fuhr man sie heim im Leichenwagen.



HALLGRIMUR HELGASON

ist der literarische Tipp, der dieser isländischen Mannschaft ebenbürtig ist. Sein zuletzt bei Tropen erschienener Roman „Seekrank in München“ ist das komischste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Ich werde darauf zurückkommen, um das zu präzisieren, aber jetzt beginnt das Spiel, nachdem eine weitere „Überraschungsmannschaft“ etc usw aso

Buchdeckel „978-3-608-50151-3 Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen

 



ICH BIN STOLZ DARAUF

bei einem isländischen Verlag zu sein, der sich in Deutschland Tropen nennt. Hier seine aktuelle Facebookmeldung: „Wenn ihr das Volk verstehen wollt, das gestern die Engländer aus dem Turnier gekickt hat, bitteschön: ‪#‎engisl‬ Hallgrímur Helgason Bjarni Bjarnason Jón Gnarr Eiríkur Örn Norðdahl“

Tropen Verlags Foto.

Foto: c Facebook.com/tropenverlag +++ Mehr zu den Büchern in der zweiten Reihe auf diesem Spielfeld noch vor dem Sieg gegen Frankreich!


IMMER EINE REISE WERT

https://zoebeck.wordpress.com/



GENAU WUSSTE ICH ES NICHT

Vor vier Tagen starb der unvergleichliche Autor Wolfgang Welt. Wer wissen will, was Popliteratur ist bzw. wozu sie fähig ist, muss seine Bücher lesen (die eine seltsame Karriere hinlegten, trotz Fürsprecher wie Peter Handke und Willi Winkler), auch um ermessen zu können, was für „Nullinger“ (Carl Weissner) da sowohl auf der Produzenten- wie Kritikerseite unterwegs sind. WW als ein Beispiel mehr, dass der Literaturbetrieb und sein Betriebsmanagement nur diejenigen an seinem nett gedeckten Tisch rumsitzen lässt, die sich an seine Regeln halten.

Unvergesslich, wie er (als Musikkritiker) 1982 im Musikexpress eine Gestalt wie Heinz-Rudolf Kunze von Anfang an nicht mit seinem dumpfen Angeberblödsinn durchkommen lassen wollte: „Heinz-Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten. Frei und holprig nach Kleists Gedicht ‚Glückwunsch‘: ‚Ich gratuliere Heinz Rudolf, denn ewig wirst du leben / Wer keinen Geist besitzt, hat keinen aufzugeben.'“

In seinen Romanen wie Peggy Sue ging es um eine andere Art von Genauigkeit — „Die Zeit der Beweglichkeit war vorbei. Zu Hause, auf der Wohnzimmer-Couch fing ich an zu heulen, weil der Wagen im Arsch war, weil ich knapp dem Tod entronnen war, weil ich wieder zu Hause sein mußte. Genau wußte ich es nicht.“

  Welt, Wolfgang: Fischsuppe

Fischsuppe, 2014 im Peter Engstler Verlag erschienen, war sein letzter kurzer Roman.

 

 



HANS FRICK (6): Berlin, 19.6.

TERROR IN SCHWARZWEISS

Eine Frick-Verfilmung in der Saless-Retro

Manchmal sind sogar in der Literaturzone klare Worte nötig: „Ich weiß, dass es in meinem Land nur einige wenige Schriftsteller gibt, die das Papier wert sind, auf dem ihre Bücher gedruckt werden. Einer von ihnen ist Hans Frick.“ Schrieb Jörg Fauser 1979 über einen Autor, der schon damals nicht so bekannt war, wie er heute sein sollte.

Ein Optimist könnte zur Zeit auf die Idee kommen, dass sich die Wiederentdeckung von Hans Frick (1930-2003) anbahnt. Kürzlich sendete der Hessische Rundfunk ein langes Feature von Hanne Kulessa, und – was etwa so selten ist wie ein Selbstmordattentäter in Dresden – an diesem Sonntag läuft im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums in Berlin der Film „Hans – Ein Junge in Deutschland“ (nach dem Roman „Die blaue Stunde“), innerhalb einer Retrospektive mit Filmen des iranischen Regisseurs Sohrab Shahid Saless (1944-1998), die zur Ausstellung „Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland“ gezeigt wird.

Der autobiografische Roman „Die Blaue Stunde“ ist der Schlüssel zu Fricks Werk. Er beschreibt seine Kindheit und Jugend im Frankfurt der Nazi- und Nachkriegsjahre und das arme, harte Leben seiner alleinerziehenden Mutter. Sie wurde als „dreckige Judenhure“ beschimpft, weil sie ein uneheliches Kind von einem jüdischen Kunsthändler hatte. Der „Halbjude“ Hans Frick wuchs mit der Angst auf, die Nazis könnten ihn jederzeit abholen, und er wusste, was sie mit den Juden und anderen machten, die nicht in ihr Deutschenbild passten.

Diese Angst prägte Fricks Leben, wurde zum Antrieb seines Schreibens und ist in allen seinen Werken spürbar. Schon in seinem ersten Roman „Breinitzer oder die andere Schuld“ hatte er 1965 mit den Deutschen und ihrer Nazi-Vergangenheit auf eine Art abgerechnet, die nichts mit Aufarbeitung zu tun hatte, sondern im Gegenteil ihre Schuld in die Gegenwart transportierte. Der zentrale Satz klingt bis heute nicht wie von gestern: „Sie haben es getan und sie werden es jederzeit wieder tun, wenn es ihnen gestattet wird.“ Nicht zufällig meldete sich Fritz Bauer, der Generalstaatsanwalt im so genannten Ausschwitz-Prozess, bei diesem herausragenden neuen Autor, und sie wurden Freunde.

Das Drehbuch zu „Hans – Ein Junge in Deutschland“, der sechs Jahre nach dem Roman 1985 erschien, schrieben Saless und Frick gemeinsam. Auch insofern bemerkenswert, weil Frick zu dem Zeitpunkt kaum noch geschrieben hat. Als Autor, der schonungslos von seinen Dämonen, Kämpfen und Niederlagen erzählte, vom Unfalltod seines kleinen Sohns ebenso wie von Alkoholismus, erreichte er mit dem Roman „Die Flucht nach Casablanca“ 1980 den Endpunkt. Er habe sich, erzählte er mir einmal, zwischen Weiterschreiben und Weiterleben entscheiden müssen.

Saless´ Filme werden im Programmheft als „unnachahmliche, minimalistische Zeitbilder, die einem den Atem abschnüren“ beschrieben, als „Filme, die terrorisieren, die aber auch etwas freisetzen.“ Und speziell dieser hochgradig beklemmende, düstere Schwarzweiß-Film „ist ein quintessentieller Saless-Film auch deshalb, weil er die Reflektion von Außenseiterschaft direkt mit einer Intervention in deutsche Erinnerungspolitik verbindet, die in ihrer Radikalität höchstens mit Rossellinis Germania anno zero vergleichbar ist. Wobei Hans das Jahr 1945 eben gerade nicht als eine ‚Stunde Null‘ erlebt.“

Saless hatte in Wien und Paris Film studiert und im Iran Dokumentar- und Spielfilme gedreht, als er 1975 vor dem Schah-Regime nach Westdeutschland flüchtete. Seine „deutschen Filme entstanden im Zuge ständiger, oft polemisch ausgetragener Auseinandersetzungen mit Filmförderung und Fernsehredakteuren.“ Seine letzten Jahre in den USA waren „geprägt von schweren Krankheiten, Armut und einem selbstzerstörerischen Lebensstil.“

Für diesen Film trafen zwei radikale Außenseiter aufeinander, die ihre Lebenserfahrungen in Bezug zur Gesellschaft setzten und auf eine Art in Kunst verwandelten, die einem im comedysierten Deutschland der Gegenwart nicht nur fremd, sondern schockierend brutal vorkommt. Wird schon kein Zufall sein, dass beide so vergessen sind.

19.6. 19h, Deutsches Historisches Museum: Hans – Ein Junge in Deutschland. BRD/F/CSSR, 1985. 148 Min. Geflüchtete haben bei allen Vorführungen der Filmreihe freien Eintritt. Die Retrospektive läuft noch bis 1. Juli.