Literatur

DEZEMBER 79

habe ich in das Buch geschrieben, auf die letzte Seite. Heute weiß ich nicht mehr, warum ich das Buch von Tommaso Di Ciaula damals kaufte. Wird wohl der heiße Titel gewesen sein: Der Fabrikaffe und die Bäume. Wut, Erinnerungen und Träume eines apulischen Bauern, der unter die Arbeiter fiel. Wagenbachs Taschenbücherei, Berlin 1979. Ich habs dreimal gelesen, und ich hoffe, mir bleibt genug Zeit, es noch zehnmal zu lesen.

„Die Fabrik, in der ich arbeite, ist 6 Kilometer von Bari entfernt. Es ist eine Fabrik, die vor 15 Jahren auf einem der schönsten Flecken der Modugneser Gegend, in der Contrada, dem Landkreis Paradiso, aus dem Boden gewachsen ist. In Luftlinie ist es gar nicht weit zum Meer, du kannst es sehen, wenn du auf das Blechdach der Werkhalle steigst. Es ist ein blaues, kraftvolles, mächtiges Meer. Wenn es bewegt ist, kann man auch die schäumenden Wellen sehen; es ist ein Meer, das einen fröhlich stimmt. Aber wenn du näher ran gehst, merkst du sofort, dass es ein totes Meer ist; Teer und Abfälle und Rohöl bringen es Tag für Tag um, es gibt keinen Fisch mehr, selbst die Krebse und Schleimfische nicht, die wir immer gefangen haben, als es noch sauber war. Mit meinen Altersgenossen radelte ich damals hinaus, oft gingen wir auch zu Fuß, und ich weiß noch, wie einer mal die Ziege mitnahm, die er auf die Weide hätte bringen sollen.“

Im Jahr darauf erschien sein Buch „Das Bittere und das Süße. Über die Liebe, das Scherenschleifen und andere vergessene Berufe“. Habe ich dreimal gelesen. Viel mehr weiß ich nicht von italienischer Literatur. Pasolini, Moravia, Ballestrini. Ein Stapel Sachbücher voller Morde. Und (natürlich!) „Die Bankräuber aus der Barriera. Die Lebensgeschichte des Revolutionärs Sante Notarnicola – von ihm selbst aufgeschrieben“ (und von Peter O. Chotjewitz übersetzt und von Trikont 1974 verlegt).

Ein halbes Jahr vor seinem Tod begegnete ich dem mindestens halben Italiener Chotjewitz in Berlin bei einer seiner letzten Lesungen. Als er eine kurze Geschichte über Sterben und Tod las, wurde uns ganz anders, meiner Tochter und mir, wie wir uns später erzählten. Danach standen wir eine Weile an der Clash-Bar und ich sagte zu ihm, dass ich seine vier Bände mit „Fast letzten Erzählungen“ (Verbrecher Verlag) nicht nur großartig finde, sondern dass sie, in ihrer Mischung aus Stories, Artikeln, Aufsätzen, eine Art Studium für mich sind, das mich noch einige Jahre beschäftigen würde. Er sagte zu mir, er habe einige meiner Bücher mit viel Freude gelesen. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Ein paar Wochen später rief er mich an, er würde demnächst an den Ammersee fahren und mich besuchen. Dazu kam´s nicht mehr.

Peter O. Chotjewitz, 7.6.2010. Foto: Pola Dobler

Von Di Ciaula ist dann, sehe ich jetzt, nur noch ein Buch auf deutsch erschienen, der Roman „Die Wasser Apuliens“. Was ich eigentlich sagen will: Ein Mann muss ein Ziel im Leben haben. Und nicht irgendeins.



MOTOR SPORT SPEZIAL

#1 – „Grabreden waren nicht ihre Stärke. Sie klagten und nickten und ließen die Köpfe hängen. Sie beteten – zu welchem Gott auch immer. Sie salutierten. Alle trugen ihre Lederkutten. Sie waren gute Amerikaner, gute Freunde, und sie glaubten an die Existenz der Seele. Sie glaubten an die Erlösung von einer Welt der Vorurteile, der Schikanen und der Gefängnisse. Sie beteten dafür, dass ihr Bruder im Jenseits ein Motorrad bekam.“

#2 – „Die weit reichende Anziehungskraft, die von den Angels ausgeht, ist ergründenswert. Im Gegensatz zu den meisten anderen Rebellen haben die Angels die Hoffnung, die Welt werde sich ihretwegen ändern, längst aufgegeben. Aufgrund von Erfahrungen gehen sie davon aus, dass die Leute, die das gesellschaftliche Gefüge am Laufen halten, nur wenig Verwendung für Motorrad-Outlaws haben, und sie haben sich damit abgefunden, Verlierer zu sein.“

#3 – „Wir hassten jeden, der kein Hells Angel war, und oft hassten wir uns auch untereinander (…) Zu diesem Zeitpunkt hatte ich seit fast zwei Jahren als Jay ‚Bird‘ Davis undercover gearbeitet und die ganze Zeit über geglaubt, alles im Griff zu haben und mich selbst in einen Hells Angel verwandeln zu können. Ich hatte geglaubt, ich hätte die Angels unterwandert. Jetzt wusste ich es besser: Sie hatten mich unterwandert.“

#4 – „Sehr geehrter Mister President“, schrieb Präsident Sonny Barger an Lyndon B. Johnson, „wir glauben, ein Topteam gut geschulter Gorillakämpfer würde den Viet Cong demoralisieren und die Sache der Freiheit voranbringen. Wir stehen sofort für Ausbildung und Einsatz zur Verfügung.“

#1/3: Jay Dobyns: Falscher Engel. München 2010. #2/4: Hunter S. Thompson: Hell´s Angels. New York 1966 (dt. München 2004).



JÖRG FAUSER (KNASTLESEN 1)

kam heute vor 25 Jahren ums Leben, als er am frühen Morgen auf der A8 vor einen Lastwagen lief. Gestern hätte er seinen 68. Geburtstag gehabt. Aus diesem Anlass las ich den Jugendlichen im Knast die ersten Kapitel aus „Der Schneemann“ vor.

Ich bin einmal die Woche dort, um aus einem Buch vorzulesen und darüber zu diskutieren bzw. über etwas, das sich daraus ergibt. „Der Schneemann“ Blum sagte ihnen was, und das zweite Kapitel, wenn Blum auf Malta zum Verhör mit dem Polizeiinspektor antreten muss, sagte ihnen noch mehr und brachte sie manchmal auch zum Lachen. Außerdem diskutierten wir über Visa, Drogen, Rechtsprechung und Schreiben und Drehbuchschreiben. „Ich will eh weg hier“, sagte einer von ihnen, „ich will nach Los Angeles.“ „Da brauchst du eine Greencard.“ „Was ist eine Greencard?“

Natürlich hatten sie von einem Autor Jörg Fauser noch nie gehört. Aber viele von ihnen haben schon etwas gesehen, von dem viele andere nur gehört haben. Ich glaube, es wird ihnen nicht schaden, dass sie jetzt ein paar Seiten von Fauser gehört haben. Mit dem Hinweis, er sei einer der größten deutschen Schriftsteller.

Hier das Gedicht „Rote Fahne“ von Fauser, gelesen von Autoren von Los Superdemocraticos:

http://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=Bww-IkP5xIk

Hier die CD mit seiner eigenen Stimme:

 

Und hier zwei Briefe an Carl Weissner (auf der schwer zu empfehlenden Gasolinconnection-Seite): http://gasolinconnection.wordpress.com/2011/12/06/jorg-fauser-2-briefe-an-carl-weissner/#comments



FÜR KATZEN

liebhaber und -hasser gleichermaßen: im Milena Verlag eine Neuausgabe von einem der besten Krimis von Kinky Friedman: Wenn die Katze weg ist. Mit einem Nachwort von mir, das auch

Wenn die Katze weg ist ...

von den allerneusten Politabenteuern des (eher ehemaligen) Countrysängers berichtet. Und so anfängt:

„1. Sie werden von Führungspersönlichkeiten geschätzt. 2. Hauptperson hat Katze im Haushalt und quasselt sie voll. 3. Parodien, besonders Krimiparodien, schon die Abkürzung Krimi stößt mich ab. 4. Autor will in politisches Amt oder ist Mitglied einer Partei. 5. Mehr als 374 Seiten, nur damit auch noch der dümmste Idiot der Familie breit ausgemalt werden kann.

War meine Antwort auf die Frage, welche Merkmale Literaturbücher haben, die mich abschrecken. Weil ich nicht unterbelichtet rüberkommen wollte, hatte ich schlecht geschrieben weggelassen.“



IN MEMORIAM HEINER LINK

Tot ist der Tote nur unter den Toten – Heiner-Link-Medley.

Import/Export: Goethestr. 30, 80336 München, Mittwoch 30. Mai 2012 20 Uhr

   Foto: Galrev.com

„Erfolg macht sexy. Und sexy will jeder sein. Noch besser ist natürlich der internationale Erfolg, der macht international sexy. Erst der internationale Erfolg hat was wirklich Verruchtes. Da bin ich natürlich dabei.“ Heiner Link.

„Vor zehn Jahren starb der Münchner Ausnahmeschriftsteller Heiner Link. Mit ihm befreundete Autoren lesen aus seinen Texten. Mit: Ralf Bönt, Julia Franck, Arno Geiger, Andreas Neumeister Norbert Niemann, Georg M. Oswald

Heiner Link wuchs als Sohn eines Kraftfahrers in Eichenau bei München auf, bevor er Schriftsteller wurde. Am 30. Mai 2002 starb er zweiundvierzigjährig bei einem Motorradunfall. Zu Lebzeiten wurden er und seine Bücher (wie etwa der „Hungerleider“) von der literarischen Kritik wenig wahrgenommen. Von den Schriftstellern seiner Generation umso mehr. Posthum wurde er mit dem Roman „Frl. Ursula“ aber doch noch zum Spiegel-Bestseller-Autor und hätte darüber vermutlich selbst am meisten gelacht.“



RUMGRASSN

ist ein schönes neues Wort. – Und es wundert mich nicht, dass der von mir schon immer (d.h. seit ca. 1984) geschätzte Peter Glaser zu denen gehört, die was Gutes zum Thema einwerfen. (Ein Missverständnis ist ja, dass alle, die sich gegen das Rumgrassn wehren, nun irgendwie auf CDU-Linie wären, soweit kommt´s noch…) – http://blog.stuttgarter-zeitung.de/category/literatur/

Außerdem sowieso Freund Wiglaf Droste in seiner täglichen Kolumne für die Junge Welt (die leider (sage ich, der seit vielen Jahren für die jW schreibt), aber wie zu erwarten war, den Grass beim behämmerten Rumgrassn unterstützt; wenigstens sind also immerhin unterschiedliche Meinungen im Blatt möglich…) – http://www.jungewelt.de/2012/04-07/042.php?sstr=wiglaf%7Cdroste%7Cg%FCnther%7Cgrass

Und damit werden wir unsern nun wirklich gleichgeschalteten Block nicht weiter mit der Sache zumüllen.

In Arbeit ein Essay: warum sind die offensichtlich bedeutendsten, irgendwie auch beliebtesten Autoren der Deutschen zwei 80-plus Männer, die immer wieder mit dubiosem (um es geradezu sanftmütig auszudrücken) Geschwafel auffallen, von dem noch das Dümmste von den größten Printmedien dankbarst aufgegriffen und groß rübergereicht wird? Warum kann ich mich nicht erinnern, dass von den durchaus zahlreichen Autoren, die ich seit 30 Jahren kennengelernt habe (sehr und weniger erfolgreiche, sich stark oder kaum politisch äußernde), niemals jemand sagte, lies doch mal dieses Buch von Grass oder Walser? Schon die Generation vor mir (Fauser, Weissner, Fels, Ploog, Fichte, Achternbusch, Cailloux u.a.) hat doch bei diesen Namen abgewunken. Da gibt´s ein auffallendes Missverhältnis; irgendwas stimmt da nicht. Da war z.B. ein Dürrenmatt ein ganz anderes Bedeutender-alter-Mann-Kaliber. Einer, der nicht als permanenter Mainstream-Mitläufer rumgeschrieben hat, und bei dem man sich vorstellen könnte, dass er (als Deutscher) einfach nur „Deutschland, halt doch einfach mal dein Maul!“ geknurrt hätte. (Geschrieben in Erwartung der großen Bürgeraktion „Einreiseerlaubnis nach Israel für Grass jetzt!“; da dürften dann wohl so ziemlich alle dabei sein…)



ZWEI MAGAZINE

die mir sehr am Herzen liegen, haben grade ihre neusten Ausgaben rausgebracht: Kaufense das — oder Sie müssen zur Strafe live im iranischen Lokalfernsehen mit Gunther Grass und Achmadinitschat über den Weltfrieden diskutieren und außerdem ein Jahr lang die Tauben der deutschen Friedensbewegung füttern.

SUPERBASTARD – Hrsg. von Benedikt Maria Kramer. 64 S., 3.- Bestellung: www.superbastard.de und in Österreich bei songdog.at — Mit Dokumenten, Stories und Gedichten von Urs Böke, Florian Günther, Andreas Niedermann, Gudrun Völk, Chrissie Wilholm, Clemens Schittko, Kai Pohl u.a. (und von mir ist das Gedicht „Dresden“ aus meinem Band „Ich fühlte mich stark wie die Braut im Rosa Luxemburg T-Shirt“ drin).

DRECKSACK – Hrsg. von Florian Günther. 12 S. (großes Zeitungsformat), 2.- Bestellung: email hidden; JavaScript is required (www.edition-luekk-noesens.de). — Mit einem 2-Seiten-Special zum Tod von Carl Weissner, und Beiträgen aller Art u.a. von Lydia Lunch, Jerk Götterwind, Matthias Penzel, William Cody Maher, Signe Maehler, Jan Herman, Florian Vetsch, Jürgen Ploog, Andreas Niedermann, Anna Böger, Anna Rheinsberg,Roland Adelmann, Urs Böke, Axel Monte. Von mir eine kurze Erinnerung an Carl Weissner.



R.I.P. HARRY CREWS

Der amerikanische Autor Harry Crews starb am 28. März im Alter von 76 Jahren. „The cause was complications of neuropathy, his former wife, Sally Crews, said“ (New York Times).

Drei deutsche Ausgaben seiner großartigen Bücher bei Mox & Maritz. Zwei Artikel über ihn weiter unten in diesem Block.



RY COODER (3)

Sein Buch „In den Straßen von Los Angeles“ geht im Moment in die Läden; Edition Tiamat, 288 S. Wir bleiben damit wie angekündigt beim Thema „Geschlecht und Mobilität“: In der Erzählung „Töten Sie mich, bitte“ geht´s vor allem auch um Billy Tipton, eine Musikerin, die als Mann auftritt und lebt (und in einer anderen Erzählung einen kurzen Auftritt als Geist bzw. Fake-Geist hat). Die Person hat Ry Cooder nicht erfunden, und ich bin im Glossar, das ich für das Buch geschrieben habe, darauf eingegangen:

„S. 102 Billy Tipton war kein Geist, sie wurde 1914 als Dorothy Lucille Tipton  geboren, begann mit etwa zwanzig als Mann aufzutreten und zu leben, und starb 1989 in jenem Spokane, Washington, zu dem er am Ende dieser Story aufbricht.  Zu Lebzeiten kannten ihre Geschichte wenige, nach dem Tod ging die Story durch die halbe Welt. „Billy wurde buchstäblich zum Aushängeschild eines neuen, zwischen Sex (biologisch) und Gender (gesellschaftlich) differenzierenden Bewusstseins, als er kurz nach seinem Tod auf dem Cover eines Ratgebers für Transvestiten und Transsexuelle erschien“, schreibt  Biografin Diane W. Middlebrook in Er war eine Frau (München, 1999). Was nichtmal alle seine fünf Ehefrauen wussten, von denen eine ein unerfahrener Teenager, eine andere jedoch ein Callgirl war. Keine hatte den Eindruck, eine Lesbe geheiratet zu haben, weil Tipton eben keine war, sondern ein „Nachahmungstalent“ und „geniale Illusionistin“, die nicht nur das Talent, sondern sozusagen die Aufgabe hatte, „sowohl die Rolle wie auch den Schauspieler, der sie spielte“, zu spielen. Tipton selbst hat keine Bekennerschreiben, nur Spuren hinterlassen. Unter den vielen, nie ganz greifenden Erklärungen, die sich um diesen Fall von „gender blending“ ranken, ist auch diese sicher nicht falsch: Was sollte ein weißes Mittelschichtmädchen sonst tun, wenn es in einer Jazzband spielen wollte? In dem einen Moment, als aus einer jenseits der Musikzentren sehr gut beschäftigten Band vielleicht eine bekannte hätte werden können, zog sich Tipton in die Provinz zurück und verlagerte seine Arbeit in eine Musikagentur. Er hatte Angst vor Popularität, sie hätte die Gefahr gesteigert, dass ihn jemand aus seinen Mädchentagen erkannte. Billy Tipton starb verarmt in seinem Wohnwagen, in den Armen des jüngsten seiner drei Adoptivsöhne. Der nach der Enttarnung bekannte, für ihn würde diese Frau immer sein Dad bleiben.“



R.I.P. CARL WEISSNER

Er wurde am 24.1. tot in seiner Wohnung aufgefunden. Mein Nachruf „Blues für Carl-le-Nègre alias The Burning Boche“ heute in der Jungen Welt.

http://www.jungewelt.de/2012/01-27/012.php