PAAR NOTIZEN POST GÜNTER GRASS

(erschienen in der jungen Welt vom 12.5.2015 mit dem Titel Ungeheuer oben)

Ich habe so mit achtzehn Die Blechtrommel gelesen, vermutlich weil ich gehört hatte, der Roman wäre nicht nur bedeutend, sondern skandalös. Ich las nie wieder ein Buch von Grass. Von Neuerscheinungen habe ich mal paar Seiten gelesen, weil man manchmal wissen will, wie der deutsche Topautor so schreibt; ich war immer desinteressiert bis fassungslos. Ereignisse wie Nobelpreis, SS-Geständnis, Israel-Gedicht bekam ich natürlich mit.

In dreißig Jahren Betriebszugehörigkeit habe ich eine Menge Schriftsteller kennengelernt. Egal, ob sie underground oder etabliert waren: ich kann mich nicht an eine einzige Stimme erinnern, die gesagt hätte, wenn´s drüber ging, wen von den Älteren man gut findet: Grass! Was mir seltsam vorkommt, wenn man sich die riesige Resonanz zu jedem Grassbuch oder nach seinem Tod ansieht. Sagen nur befreundete Autoren und Empfänger eines Grass-Stipendiums was Nettes? Und ist die irre Beachtung des Feuilletons nur ein besonders krasses Beispiel für die Kluft zwischen Literaten und Literaturverwaltung/-kritik? Keine Ahnung.

Warum ich´s nie schaffte, nochmal mehr Grass zu lesen, ist mit dem gesagt, was Gerhard Henschel zu dessen Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel 2006 schrieb (nachzulesen in Henschels Sammlung Beim Zwiebeln des Häuters): „Als die Geschichte“ mit der Waffen-SS „an den Tag gekommen war, verfinsterte sich für leichtfertige Medienkonsumenten selbst die Aussicht auf ein grassfreies Viertelstündchen.“ Während Grass verkündete, „dass die Kontroverse für ihn selbst >existentiell bedrohliche Ausmaße angenommen< habe“. Kommentar Henschel: „Es gibt nicht viele Menschen auf Erden, die existentiell weniger bedroht sind als Günter Grass. Ungeheuer oben thronend aber greint er, sobald ihm jemand widerspricht, dass man ihn zu vernichten trachte.“

Und dann die Grass-Zitate, nur ein Beispiel: „Danach ist immer davor. Was wir Gegenwart nennen, dieses flüchtige Jetztjetztjetzt, wird stets von einem vergangenen Jetzt beschattet, so dass auch der Fluchtweg nach vorne, Zukunft genannt, nur auf Bleisohlen zu erlaufen ist.“ Henschel stimmt der Einschätzung von Eckhard Henscheid zu (die sich übrigens von der Jörg Fausers nicht unterscheidet), dass „ausgerechnet der altbackenste, penibelste, moralinhaltigste, vereinsmeierlichste, autoritätsfixierteste und ängstlichst hierarchiebedachteste Schriftsteller der zweiten Jahrhunderthälfte (…) als barock und berserkerhaft, als üppig und revoluzzig, als anarchisch und häretisch, in summa: als humoristisch fehlkatalogisiert wurde und mitunter noch wird …“ (Mitunter ist gut, sage ich heute.) Und Grass hatte auch noch Martin Walser als Verteidiger: „Der Mündigste aller Zeitgenossen kann sechzig Jahre lang nicht mitteilen, dass er ohne eigenes Zutun in die Waffen-SS geraten ist. Das wirft ein vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch.“ Worum´s tatsächlich geht, erwähnt Henschel am Anfang: „In welcher Uniform er im Frühjahr 1945 herumgelaufen ist, wäre unerheblich, wenn er selbst bis zum Versand der Rezensionsexemplare kein Geheimnis daraus … gemacht hätte.“

Nicht bei Grass´ Tod, sondern nach dem Lesen von paar Nachrufen erinnerte ich mich ganz vage an Geschichten, von denen da nichts erwähnt wurde und dachte, da suchst du mal rum. Hätte ich wohl nicht tun müssen, wenn ich die von Klaus Bittermann herausgegebene Sammlung Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebsintriganten Günter Grass. Unser Ständchen zum 80. Geburtstag kennen würde. War da nicht was mit Heinar Kipphardt? Der im Verlagstext zu diesem Anti-Grass-Buch so zitiert wird: G.G. sei einer, „der mit der SPD in alle Arschlöcher kriecht, in das des Papstes inklusive“. Hart, aber warum?

Auf der Webseite der Münchner Kammerspiele ist der Fall dokumentiert (http://100mk.de/dra_dra.html): 1971 wurde dort das Biermann-Stück Dra-Dra aufgeführt; die „Drachentöterparabel handelt von einem furchterregenden Drachen, der das ganze Land arm frisst und das Volk terrorisiert“. Chefdramaturg Heinar Kipphardt war für das Programmheft presserechtlich verantwortlich, in dem Dramaturg H. und Regie-Assistent G. „24 Fotos von westdeutschen Machthabern aus Wirtschaft, Politik und Publizistik als symbolische Drachen“ abbilden wollten, darunter Münchens SPD-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel. Diese Idee wurde jedoch „aus juristischen Bedenken“ nicht ausgeführt – und kam dennoch an die Öffentlichkeit, zum Bürgermeister, zu Grass, der zum Hauptredner der folgenden Debatte wurde. „Am Ende wurde Kipphardts Vertrag mit den Kammerspielen vom Münchner Kulturausschuss nicht verlängert, obwohl August Everding (damals Generalintendant, A.d.V.) ihn gerne in seinem Haus behalten hätte. Die Drachen spielten ihre Macht aus. Der Denunziant ist bis heute nicht bekannt. Kipphardt musste unter großem Protest des Ensembles und von Kollegen die Kammerspiele verlassen.“

Kipphardt hatte in der Debatte geschrieben: „Jemand könnte fragen: Wenn nun diese gemeingefährliche Bekanntgabe von Kapitalmacht und deren Interessenvertretung glücklicherweise gar nicht veröffentlicht wurde, warum veröffentlichte das dann Günter Grass, und wieso hat er gekannt, was nicht erschienen ist?“ Laut Spiegel 22/1971 hatte Grass in der Süddeutschen Zeitung geschrieben: „Mein Schriftstellerkollege Heinar Kipphardt (…) ist unter die Hexenjäger gegangen“, er sei „dumm und gemeingefährlich“ und „ein Denunziant“, der „schlimmste deutsche Tradition“ fortsetze. Grass machte damit „etwas existent, das zuvor nicht existierte“, hieß es im Spiegel – etwas, das nicht existierte, interpretierte Hans-Jochen Vogel als Aufforderung „zur Ermordung des Oberbürgermeisters“. Ist lange her (und es war noch lang hin bis zu Grass´ SS-Outing), jedoch: „bis heute etwa behauptet Günter Grass wider besseres Wissen, dass Kipphardt Anfang der 70er Jahre zur Ermordung von SPD-Politikern aufgefordert habe“, schrieb Jörg Sundermaier in der taz vom 30.3.2013.

Ich hatte noch eine (womöglich verdrehte) Erinnerung: war da nicht was mit dem Zeichner Ernst Kahl? Hatte er den (sicher unterschätzten) Künstler bzw. Aquarellisten Grass nicht mal parodiert? Ich machte mich an die Arbeit, in meiner mies geordneten Bibliothek nach Kahl-Veröffentlichungen zu suchen. Kam einiges raus; und dass ich die S.3 von Konkret, die jahrelang ein Kahl-Werk brachte, jahrelang kopiert und gesammelt habe (ha, du hast deine Freizeit gelegentlich sinnvoll genutzt!). Schließlich, als ich schon dachte, okay, dein Gedächtnis kannste jetzt langsam auch vergessen, konnte ich mich mit dem Katalog Kahlschläge von 1991 beruhigen.

Auf S.104 präsentiert Ernst Kahl den „Volkshochschulkurs >Zeichnen wie G. Grass in Kalkutta<„: Das erste von sechs Panels ist ein Zeitungsfoto: auf dem Schoß einer Madonna-ähnlichen Frau sitzt ein sichtlich halbverhungertes Kind, auf dessen Kopf ihre schützenden Hände liegen. Darunter beginnt der Zeichenschule-Text: „Nicht jede(r) hat Zeit, bzw Geld, sich vor Ort ein Bild zu machen. Ihr (ihm) sei empfohlen, eine Vorlage aus der Zeitung zu benutzen.“ Dieses Foto wird im zweiten Panel mit den ersten Strichen nachgemalt: „Wir beginnen mit der zarten Umrisszeichnung auf handgeschöpftem Bütten. Dazu verwenden wir den Stift mit Rattenkötelmine … “ Mit jedem Panel wird das Bild sozusagen fertiger, bis am Ende ein Aquarell á la Grass, das obendrein Geschriebenes enthält, vollendet ist: „Um Papier zu sparen und um dem Ganzen formalen Halt zu geben, schreiben wir uns unsere Betroffenheit von der Seele direkt in´s Bild. Nun geben wir es in einen schlichten Goldrahmen und lassen´s etwas ziehen. Fertig!“

Ich habe Günter Grass literarisch nicht das geringste zu verdanken, aber ich bin ihm dankbar, dass ich jetzt mal wieder einen glücklichen Nachmittag mit Ernst Kahl verbringen durfte.

Deshalb möchte ich zum versöhnlichen Abschluss, für wen auch immer, erwähnen, dass ich einmal an meiner literarischen Einschätzung von Günter Grass für Sekunden gezweifelt habe. In der umfangreichen Darstellung Die Beat Generation von Steven Watson ist auf S.295 diese Liste von ca. 1963 kommentarlos abgedruckt: „Die Neon-Revolution, laut Ken Kesey: Lenny Bruce, William Burroughs, Ornette Coleman, Günter Grass, Anna Halprin, Wally Hedrick, Joseph Heller, New-Wave-Filmemacher, John Rechy“.

Darauf einen Brecht: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

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