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HANK WILLIAMS

wurde heute vor 89 Jahren geboren. Ich habe mehrere Beiträge über seine Musik und Bedeutung geschrieben. Zuletzt ein Nachwort für den Comicroman Lost Highway von Soren Glosimodt Mosdal (Edition Moderne, 2011). Seinem speziellen Blick entsprechend, sind die Gespenster ein Thema. Und das geht so:

HILLBILLY GEISTERBAHN

Das Jahr 1953 begann nicht gut für Billie Jean Williams. Die 19-jährige Ehefrau des Countrystars Hank Williams war bei ihren Eltern, als am Morgen des Neujahrstags der Anruf kam. Sie beobachtete ihren Vater am Telefon und wusste sofort, dass ihr Mann schon wieder in irgendwas reingeraten war. Dann nahm ihr Vater sie in den Arm und überbrachte ihr die Nachricht vom Tod.

Sie schrie und weinte und sagte zu ihrem Vater, er solle dort anrufen, „ich sagte: ‚Sie sollen ihn nicht anrühren! Manchmal täuscht er nur vor, dass er schläft!’ Ich befürchtete, dass sie ihn lebendig begraben würden.“

Die Geisterbahn, in der Hank Williams durch sein Leben rauschte, hatte nach 29 Jahren die Endstation erreicht. Während der Geisterbahnfahrt hatten sich einige Monster und Gespenster vor ihm aufgebaut, und als die Bahn ihre letzte Runde drehte, tobte ein Blizzard, vor dem sich selbst der Heilige Geist verkrochen hatte.

Ich weiß nichts über Gespenster. Nur dass sie in diesen Situationen gern auftauchen. Man weiß wenig darüber. Und man weiß auch nicht, wann Hank Williams starb, im letzten Hotel, auf der Rückbank des Cadillac, am letzten Ende des Jahres 1952 oder in den ersten Stunden des nächsten Jahres? Ist das wichtig? Ist an der Sache irgendwas gespenstisch? Oder wollen wir es nur etwas seltsam nennen? War der Aufbruch in die vorhergesagte weisse Hölle, um zum Konzert im zwei Tagesreisen entfernten Clanton, Ohio, zu kommen, eine Dummheit oder doch nur Gottes Wille? Sicher ist, dass Hank falsch lag, als er dem erschöpften Fahrer erklärte, Jesus sei ihr Ersatzfahrer. Und sicher ist, dass sein Sarg wenige Tage nach der Beerdigung ausgegraben wurde.

20.000 Menschen waren bei seiner Beerdigung, und es heißt, dass es in Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, nie eine größere Trauergemeinde gab. Das Besondere war, berichtete der Fiddler Jerry Rivers, dass Menschen aus allen Schichten dabei waren, „ein grauhaariger Funktionär im konservativen blauen Anzug, junge Männer in Lederjacken, alte Frauen mit Kopftüchern, weinende junge Mädchen in glänzender Seide, Weiße und Farbige, Männer in Luftwaffenuniform und Männer in der Westerntracht der Entertainer.“ Dieses Spektrum hatte mit dem Image von Countrymusik wenig zu tun.

Dreitausend war es vergönnt, an der Messe in der Stadthalle teilzunehmen, Hanks Leichnam zu sehen, die weiße Bibel in seinen Händen. Im ersten Rang hatte man 200 Afroamerikaner von den Weißen separiert. Ich stelle mir vor, dass Rosa Parks unter ihnen saß, die nur drei Jahre später den berühmten Busstreik in Montgomery beginnen sollte. Wurde sie von Typen angestarrt, die nachts in Gespensterklamotten schlüpften? Man weiß immer zu wenig. Die Klanmänner mochten sicher nicht den Blues, aus dem die Hanksongs gekrochen waren.

Er betonte es immer wieder. Seine wichtigste musikalische Lehre habe er als Junge bei dem schwarzen Straßenmusiker Rufus Payne alias Tee-Tot erhalten. Die Mutter schimpfte, gottverdammich, haste denn nichts Besseres zu tun als „lollygag around niggertown all day?!“ Diese Lehre war nichts Besonderes, kaum ein bedeutender Countrymusiker aus dieser Zeit hat nicht bei einem Bluessänger/gitarristen gelernt. Es ist grotesk und gespenstisch, wenn jemand glaubt, Country wäre eine reinweiße Musik. Aber es war ungewöhnlich, dass der Star, zu dem Hank Williams mit seinem 1949er-Hit „Lovesick Blues“ geworden war, sich öffentlich vor so einem Tee-Tot, einem Tee-mit-Schnaps saufenden „Nigger“, verneigte. Bei einem Festakt in Montgomery hatte er Tee-Tot sogar ehren wollen und ließ nach ihm suchen: Rufus Payne lag seit 1939 in einem Armengrab.

Kein anderer Countrysongwriter vor oder nach Hiram Williams war so stark bluesinfiziert. Nicht nur musikalisch. Die hoffnungslose Variante des Blues war ein Teil seiner Persönlichkeit, ein verzweifelter Zug in seinem Charakter, der ihn nicht älter als 29 werden ließ.

Mit „Move It On Over“ hatte Hank Williams 1947 seinen ersten Erfolg gehabt. Eingespielt mit Fiddle, Bass und vier Gitarren, von denen Zeke Turners elektrische scharf nach vorn gemischt war, war es einer der ersten Songs, die Rock’n’Roll ankündigten. Und natürlich war es dann die Live-Fast-Die-Young-Story, die ihn für alle Generationen von Musikern zum Held machten. Der Held, der sich nicht kontrollieren konnte und ließ. Der lieber schnell ausbrannte. Sich aus dunkelster Seele Songs schnitt. Heulte, brüllte, Scheiße baute. Seine Ehehölle rücksichtslos besang und mit perfektem Gespür für Rhythmus. Auf seine Ehefrau Audrey schoss. Ein katastrophaler Geschäftsmann. Der geil auf Erfolg war, aber auf lukrative Filmangebote spuckte. Unsummen verschleuderte, größte Konzerte platzen ließ. Unfähig, die Bremse zu ziehen. Zugedröhnt sein Publikum beschimpfte. Genie und  Knalltüte. Jagen, Fischen, Monster-Comics. Die manisch erträumte heile Familie und die Unfähigkeit zu einem irgendwiiiie normalen Leben: die Kluft, aus der gern Gespenster kommen.

Aber dann an einem Nachmittag ein paar Klassiker hinkritzeln und sie alle in ein paar Stunden komplett fertig aufnehmen.

Das ist der Rock’n’Roll, den Millionen junger Menschen im Kopf haben, wenn sie sich im Übungsraum treffen. Ich glaube, es war Kinky Friedman, der davor warnte: Alle wollen Hank Williams sein, aber keiner will so sterben. Dieser eher an ein Promi-Dasein geknüpfte Hank-Traum sieht in der Countryindustrie von heute besonders blöd aus. Auf die von allen angehimmelte Himmelsgestalt Hank beruft sich (so hat es Dale Watson in einem Song beschrieben) auch noch der Sänger, dessen größtes Problem im Leben war, während einer einwöchigen Tournee in einem Hotelzimmer gelandet zu sein, wo der Fernseher kaputt war.

Williams kam aus einer anderen Welt. Als er Anfang der 40er seine Band formierte, ging er zuerst in einen Waffenladen, um jedem Musiker einen Totschläger zu kaufen. Denn in den Schuppen, in denen sie spielten, bräuchten sie sowas, erklärte er ihnen. Gelegentlich schlug Lum York den Standbass für die Drifting Cowboys, und seine Job war es, dazwischen ein paar Witze zu erzählen. Er pappte sich farbige Punkte, so genannte Polka Dots ins Gesicht und machte Blödsinn. Wenige Tage vor seinem Tod wollte ihn Hank wieder in seine Band holen, aber Lum hatte ein gutes Engagement bei Lefty Frizzell. Außerdem hatte Hank keine Band mehr. Sie hatte das Chaos nicht mehr ausgehalten. Sein Name hatte kaum an Glanz verloren, doch er spielte fast nur noch in den miesen Schuppen seiner Vergangenheit. Manager und Ärzte verpassten ihm harte Medikamentencocktails, damit er auf der Bühne irgendwas bieten konnte und weiter Geld abwarf.

Ein Leben auf Tournee sah damals anders aus. Die glorreichen Jahre von 1949 bis 1951 verbrachten sie meistens im Auto, fuhren eingeklemmt die Nacht und den nächsten Tag durch zum nächsten Konzert. 1949 hatte Hank über drei Millionen Platten verkauft, aber es gab diese Tourneeriesenbusse noch nicht. Exakt in diesen Jahren blühte Nashville zur Countrymusikindustriestadt auf. Die Grand Ole Opry wurde zur berühmtesten Konzerthalle mit Radioshow und Künstlertruppe. Selbst die großen New Yorker Labels waren angekommen, immer mehr Aufnahmestudios wurden benötigt, die jeden Tag Musiker brauchten. Wer’s schaffte, sich einen festen Job zu besorgen, ersparte sich die nervtötenden endlosen Autofahrten. Die für Hank Williams’ schweres Rückenleiden Gift waren. Weshalb sein Hang zu betäubenden Mitteln jeder Art immer wieder angefeuert wurde. Er hatte zu seinem letzten Konzert fliegen wollen – doch der Schneesturm stürzte auf die Welt wie ein Monster. Das Auto war der passende Ort für das Ende.

Und war es nicht etwas seltsam, dass in diesen Tagen „I’ll Never Get Out Of This World Alive“ im Radio ertönte, eine seiner letzten Aufnahmen, die erst der Tod an die Spitze der Charts schob. Genau einen Tag nach Hanks Tod wurde der erste von vielen Ich-erzähl-euch-die-Hankstory-Songs aufgenommen. Bald darauf war Hanks „Kaw-Liga“, der traurige Holzindianer, der mit seinem geliebten Holzindianermädchen nicht zusammenkommen kann, ein Nr.-1-Hit. Mit dem früh gealterten, ausgebrannten Williams war es immer schwieriger geworden, Geschäfte zu machen. Der größte Country-Werbeträger, die Grand Ole Opry hatte ihn wegen Unzuverlässigkeit gefeuert. Er hatte als stärkster Motor für ein aufstrebendes Musikgeschäft gedient, in dessen geordneten Bahnen für so einen unberechenbaren, anders funktionierenden Typen kein Platz mehr war. Es war einfacher, mit dem Toten klarzukommen. Die großen Geschäfte sollten noch kommen.

Soren Mosdal lässt einige Gespenster gegen sein Skelett aus Fakten antanzen. Ein nie verfilmtes Skript von Paul Schrader habe ihn inspiriert, erzählte er in einem Interview, und sein großartiger Comicroman könnte auch als würdiger Teil 2 von Taxi Driver gesehen werden. Die Aussagen des Ersatzfahrers Charles Carr ergaben nie mehr als das, was Mosdal zeigt: die Cops, die ihn anhielten, zwei Damen im Hotel; andere von Carrs Angaben waren nur widersprüchlich. Als man an der Leiche frische Spuren von schweren Schlägen fand, hatte er keine Erklärung dafür. Lost Highway zeigt, was der vollkommen überforderte 18-jährige erlebt hatte: eine Höllenfahrt.

Die Gespenster um Hank veranstalteten noch länger ein tolles Hullygully. Ihr wisst ja, dass ihr es auch anders nennen könnt. Colin Escott, der die beste Hankbiographie schrieb, nannte dieses Kapitel „Schreckliche Abgründe“, und was ich davon erwähne, ist nur ein Bruchteil: Zuerst ließ der Grand Ole Opry-Konzern Plakate drucken, die mit dem großen Hank warben, obwohl sie ihn doch gefeuert hatten; das war der Anfang der Legende vom netten Kerl. Hanks junge Ehefrau war nach zwei Wochen wieder munter, als sie auf den Vorschlag eines geschäftstüchtigen Burschen einging, mit einer Band als „Mrs. Hank Williams“ auf Tour zu gehen. Hanks noch nicht lang von ihm geschiedene Frau Audrey ging ebenfalls als „Mrs. Hank Williams“ auf Tour. Das bestes Schlachtfeld ihres zehnjährigen Ehekriegs war, dass Audrey in Hanks Band mitsingen wollte, aber kein Talent hatte und mit zunehmendem Erfolg ausgeschlossen war. Jetzt hatte sie endlich eine freie (sehr kurze) Bahn ins heiß ersehnte Showbusiness. Als sie das Management für den kleinen Hank Williams Jr. übernahm, der zum Countrystar und Sarah Palin-Fan heranreifen sollte, organisierte sie sein erstes Konzert in Clanton, Ohio, in dem Konzertsaal, den sein Daddy damals nicht mehr erreicht hatte. Dagegen waren die folgenden Erbschafts- und Songrechtekämpfe fast harmlos.

Hank und seine neue Frau Billie Jean hatten im letzten August dreimal an einem Tag geheiratet. Zwei der Zeremonien fanden auf der Bühne in New Orleans statt. Für zwei Shows, in deren Verlauf Hank sang und dann seiner Braut das Ja-Wort gab, waren über 10.000 Tickets verkauft worden. Wer seine Musik nicht versteht, könnte zumindest diese Geschäftsidee zukunftsweisend nennen. 1953 heiratete Billie Jean wieder einen Countrysänger, Johnny Horton, ein Mann, der an spiritistischen Sitzungen teilnahm und an Seelenwanderung glaubte. Er hasste es, auf Tournee zu gehen. Er starb 1960 auf der Rückfahrt nach einem Konzert in Austin, als ein Betrunkener in sie reinfuhr. Johnny Hortons letzte Bühne war die, auf der auch Billies Jeans Gatte Hank Williams sein letztes Konzert gegeben hatte.

Hanks Geburtsname war Hiram, nach einem König aus dem Alten Testament. Es vergingen zehn Jahre, ehe auf dem Standesamt sein Name eingetragen wurde, und dann war er falsch geschrieben: Hiriam. Ein Priester sagte, er solle sich keine Gedanken deswegen machen, das sei kein schlechtes Omen. Aber der amerikanische Süden war ein seltsames Religionsgebiet. Manche wälzten sich schreiend auf dem Boden, wenn Jesus mit ihnen sprach, und andere bissen einer Klapperschlange den Kopf ab, um die Stimme Jesu endlich zu hören.

Am 17. Januar 1953 wurde der Sarg wieder ausgegraben. Unter ihm lagen die Überreste französischer Soldaten, die exhumiert werden mussten. Hanks Leiche wurde umgebettet, nachts, um keine Gerüchte aufkommen zu lassen. Doch „einige mitternächtliche Passanten sahen, wie der Sarg im flackernden Lampenschein über den Friedhof getragen wurde.“

Und da war eine Stimme, die „I Saw The Light“ summte. Manchmal kannst du sie auch heute noch hören. In dem Moment, wenn die Nadel springt.



WAS VERGESSEN

Es müssen in der Nähe nicht Bomben aus dem Boden geholt werden, um das Gefühl zu haben, dass die unglaublichen Heldentaten der Deutschen im 20. Jh. nicht ganz so begraben, vergessen, vergeben sind, wie sie das gern hätten. Da könnse z.B. gern mal Ihren griechischen Nachbarn fragen, falls er nicht grade damit beschäftigt ist, Ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Oder sich was anhören:

3 CDs, 183 Min., Booklet. Konzeption/Regie: Evelyn Steinthaler, Klaus Sander. Supposé Verlag, Berlin 2012.

Aus dem Verlagstext: „Käthes Eltern, beide überzeugte Sozialdemokraten, leben und arbeiten in Wien. Mit wachsendem Druck des Regimes setzen sie sich mit anderen Gleichgesinnten im Untergrund zur Wehr; auch Käthe wird immer mehr Teil dieses politischen Kampfes. Der Tod ihrer Mutter und die Grausamkeiten der Nationalsozialisten lassen sie schließlich das politische Erbe ihrer Eltern antreten, und so setzt sie die Arbeit bis zur ihrer Verhaftung im Alleingang fort. Nach langem Aufenthalt in den Wiener Gefängnissen wird sie 1944 in das Konzentrationslager Ravensbrück überführt.

Heute ist Käthe Sasso 86 Jahre und lebt allein in ihrem Haus in Winzendorf. Ihre dramatischen Erinnerungen hindern sie nicht daran, ein modernes Leben zu führen. Seit ihrer Flucht aus Ravensbrück setzt sie sich unermüdlich für das Andenken der hingerichteten WiderstandskämferInnen der „Gruppe 40″ auf dem Wiener Zentralfriedhof ein. Für ihr Engagement wurde sie u. a. mit dem Goldenen Verdienstzeichen der Republik Österreich ausgezeichnet. Sie bleibt eine Kämpferin – nicht nur in Worten, auch in der Tat.“

 



SPITZENSATZ (5)

„Luxus verbinde ich nicht mit materiellen Dingen, sondern mit Werten: Entspannung und Zeit, das ist Luxus pur.“

(Quelle: Millionsfun.com)

Luxus und Praxis (Werbung)



GROSSE AUFREGUNG

wie immer auch hier, wenn ein neues Buch von Walser auf den Markt kommt, die vielleicht sogar größer als in den großen Redaktionen ist, wo man natürgemäß alltäglich mit großen Themen konfrontiert ist, selbst in der Abteilung für Literatur.

Wie allgemein bekannt, ist es ein Vorteil von uns Independents, nicht nur schneller und spontaner handeln zu können (womit zweifellos keine höhere Qualität des Beitrags verbunden sein muss), sondern auch überraschende, ggf. abseitige Querverweise auf der Pfanne zu haben. Ich schreibe dies im Anblick eines Musikvideos der Hustlers, das mich mit einem spärlich bekleideten Surfergirl verständlicherweise vom Thema abzulenken vermag. Eine Bemerkung, die im seriösen Feuilletion zurecht nichts verloren hat. Wie auch die Bemerkung, dass das falsch geschrieben „Feuilletion“ durchaus netten Effekt haben könnte. Aber, wie schon Miles Davis meinte, „so what“.

Im Angesicht (nicht des Verbrechens, sondern) der Walser-Aufregung verweisen wir also einmal mehr auf das Theaterstück „Der Literaturverweser“ von Carl Wiemer (Edition Tiamat, Berlin 2010), mit dem Dichter Martin Walser (im Stück „Alwin Raser“), seiner Gattin und den drei Töchtern in den Hauptrollen, und präsentieren einen Auszug, der dem einen wie dem anderen Buch nützen möge:

Freya: Worüber wollen sie überhaupt mit dir reden?

Raser: Über Gott und die Welt.

Freya: Darauf bist du spezialisiert.

Raser: Seit den fünfziger Jahren hat es keine öffentliche Debatte gegeben, an der ich nicht teilgenommen hätte. Ich hatte zu allem etwas zu sagen. Bekommt ihr noch alle meine Themen zusammen?

Freya: Mal sehen. Lasst uns einen Quiz veranstalten. Alwin Rasers Wortbeiträge der letzten fünf Jahzehnte.

Elvira: Au ja. Und wer nicht mehr weiter weiß, muss zum Abendessen mit einem von Papas Ehrendoktorhüten auf dem Kopf erscheinen.

Anmerkung: Soweit wir wissen, wurde Carl Wiemer sein dramatischer Text mit dem Untertitel „Ein Stück über Vernichtungsgewinnler“ bisher nicht aufgeführt. Böse Zungen behaupten, das sei bezeichnend für die deutsche Theaterlandschaft.

Wir nicht.



KID KOPPHAUSEN

Verpassen Sie weder das Album noch die Show:

sind Nils Sundance Kid Koppruch und Gisbert zu Knyphausen und die Band. Hier Tourdaten, Video etc.: http://kidkopphausen.de/



DRECKSÄUE VERDAMMTE

Man will´s natürlich dann nicht gewusst haben, aber irgendwie hat man´s doch wieder gleich gewusst. Unser neuer Praktikant/in (s. 31.8.) ist eine Drecksau und sogar eine ganz eine miese Drecksau. Hat noch keinmal das Klo geputzt, aber schon einen Streik angezettelt, bei dem alle zukünftigen Ex-Mitarbeiter mitspielen wie Lothar Matthäus in seinen besten Zeiten.

Ich bin hier vollkommen allein. Ich fühle mich hier immer vollkommen allein, aber jetzt bin ich´s in echt. Und es fühlt sich echt übel an. Ich weiß nichtmal, wie man hier die Kommentare zulässt. Ich weiß nichtmal, wie man unser verdammtes Facebook aufmacht.

Ich weiß nichtmal, was ich tun könnte, außer bei einem anderen Block die Tür einzutreten und was zu klauen. Was soll´s – man hat ja was gerlernt in seinem Leben, damit man´s dann auch anwendet. Gute Gelegenheit, sich an eine bewährte Taktik aus den guten alten Punktagen zu erinnern: Schlag immer nur den Laden kurz und klein, wo sie garantiert nicht die Polizei rufen.

Und weil ich nicht ganz blöd bin, klau ich im Ausland, genauer gesagt in Wien, beim Block des Songdog Verlags. Das ist eigentlich ein ganz netter Haufen, aber ich bin nunmal in einer Notsituation und da gelten andere Gesetze. Bis die Songdogs mal die Nummer der Cops finden, könnte Pussy Riot ein Doppel-Album einspielen. Hier also derLeitartikel von Songdog.at vom 5. September:

xxx BLASPHEMIE xxx

Der österreichische Filmemacher Ulrich Seidel hat sich von Erz-Katholiken eine Anzeige wegen Blasphemie eingehandelt. Es soll sich bei der inkriminierten Stelle in seinem neuen Film “Paradies” um  ”Masturbation mit einem Kruzifix” handeln.

Jawohl! Wer, außer den Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft, deren Proponenten die ihnen anvertrauten Kinder sexuell missbrauchen, schlagen, quälen, und danach jede Schuld leugnen und von ihren Vorgesetzten gedeckt werden, verfügt über die moralische Integrität, einen als  blasphemisch empfundenen Künstler in die Schranken zu weisen und ihn der gerechten Strafe zuzuführen?

Wir hier von der Blockredaktion sagen nur: Schämen Sie sich Ulrich Seidel, und tun sie Buße: Lesen Sie das Gesamtwerk von Martin Mosebach! Das sollte genügen. Auch für den Rest Ihrer Sünden.

xxx:::xxx

Unser Filmredaktor ist grade wieder gekommen – was für ein Genie!

 



DEZEMBER 79

habe ich in das Buch geschrieben, auf die letzte Seite. Heute weiß ich nicht mehr, warum ich das Buch von Tommaso Di Ciaula damals kaufte. Wird wohl der heiße Titel gewesen sein: Der Fabrikaffe und die Bäume. Wut, Erinnerungen und Träume eines apulischen Bauern, der unter die Arbeiter fiel. Wagenbachs Taschenbücherei, Berlin 1979. Ich habs dreimal gelesen, und ich hoffe, mir bleibt genug Zeit, es noch zehnmal zu lesen.

„Die Fabrik, in der ich arbeite, ist 6 Kilometer von Bari entfernt. Es ist eine Fabrik, die vor 15 Jahren auf einem der schönsten Flecken der Modugneser Gegend, in der Contrada, dem Landkreis Paradiso, aus dem Boden gewachsen ist. In Luftlinie ist es gar nicht weit zum Meer, du kannst es sehen, wenn du auf das Blechdach der Werkhalle steigst. Es ist ein blaues, kraftvolles, mächtiges Meer. Wenn es bewegt ist, kann man auch die schäumenden Wellen sehen; es ist ein Meer, das einen fröhlich stimmt. Aber wenn du näher ran gehst, merkst du sofort, dass es ein totes Meer ist; Teer und Abfälle und Rohöl bringen es Tag für Tag um, es gibt keinen Fisch mehr, selbst die Krebse und Schleimfische nicht, die wir immer gefangen haben, als es noch sauber war. Mit meinen Altersgenossen radelte ich damals hinaus, oft gingen wir auch zu Fuß, und ich weiß noch, wie einer mal die Ziege mitnahm, die er auf die Weide hätte bringen sollen.“

Im Jahr darauf erschien sein Buch „Das Bittere und das Süße. Über die Liebe, das Scherenschleifen und andere vergessene Berufe“. Habe ich dreimal gelesen. Viel mehr weiß ich nicht von italienischer Literatur. Pasolini, Moravia, Ballestrini. Ein Stapel Sachbücher voller Morde. Und (natürlich!) „Die Bankräuber aus der Barriera. Die Lebensgeschichte des Revolutionärs Sante Notarnicola – von ihm selbst aufgeschrieben“ (und von Peter O. Chotjewitz übersetzt und von Trikont 1974 verlegt).

Ein halbes Jahr vor seinem Tod begegnete ich dem mindestens halben Italiener Chotjewitz in Berlin bei einer seiner letzten Lesungen. Als er eine kurze Geschichte über Sterben und Tod las, wurde uns ganz anders, meiner Tochter und mir, wie wir uns später erzählten. Danach standen wir eine Weile an der Clash-Bar und ich sagte zu ihm, dass ich seine vier Bände mit „Fast letzten Erzählungen“ (Verbrecher Verlag) nicht nur großartig finde, sondern dass sie, in ihrer Mischung aus Stories, Artikeln, Aufsätzen, eine Art Studium für mich sind, das mich noch einige Jahre beschäftigen würde. Er sagte zu mir, er habe einige meiner Bücher mit viel Freude gelesen. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Ein paar Wochen später rief er mich an, er würde demnächst an den Ammersee fahren und mich besuchen. Dazu kam´s nicht mehr.

Peter O. Chotjewitz, 7.6.2010. Foto: Pola Dobler

Von Di Ciaula ist dann, sehe ich jetzt, nur noch ein Buch auf deutsch erschienen, der Roman „Die Wasser Apuliens“. Was ich eigentlich sagen will: Ein Mann muss ein Ziel im Leben haben. Und nicht irgendeins.



A NIGHT IN ZAGREB

heißt der neue Film unserer Freunde von Slowboatfilms und ist ein 90-Min.-Portrait der großartigen Bambi Molesters. Hier der Trailer: http://slowboatfilms.com/index.php?link=The-Bambi-Molesters_A-Night-In-Zagreb

Und noch ne gute Meldung: Christoph Wagner, Musikjournalist und Herausgeber einiger Trikont-Compilations wie

Murder – Songs From The Dark Side of The Soul

hat seinen MusikBlog eröffnet: http://christophwagnermusic.blogspot.de/

Und mehr : Trikont-Hrsg. Jonathan Fischer hat seine große Black Music-Serie um ein Album erweitert:

„Chuck Perkins Sprechgesänge transportieren den Funk von Jazz Funerals,  kreolischer Küche,  Mardi Gras Indian Chants, anarchischen Second Line Tänzen und Voodoo-Zeremonien. Sie fließen über mit einer Leidenschaft, die sich selbst von Gewalt, Armut, Drogenmorden und korrupter Polizei nicht unterkriegen lässt. New Orleans ist ein Ort an dem eine uralte afrikanisch-kreolische Geschichte des Widerstands weitergeschrieben wird – in den lebensbejahenden Rhythmen der jungen Brassbands wie den todesverachtenden Versen seiner Bounce Rapper.“



TOPCOVERS DER WELT Nr.101

Die Kollegen von den mittelständischen Unternehmen kennen das spezielle Problem dieses Blocks, dem wir jedoch keineswegs besondere Beachtung schenken: der neue Praktikant/in.

Alle begrüßen ihn freundlich und setzen sich, da besteh ich drauf, mit ihm an den runden Tisch. Wird schon schiefgehn! Ist sowieso in erster Linie eine Angelegenheit unseres Geschäftsführers (der seine Berufsbezeichnung nicht leiden kann (!)), während ich mich vom Ausbildungsbereich eher fernhalte. Es gibt schon genug zu tun.

Sagt also unser G-Führer, der gern forsch rangeht, zum Praktikant/in: Haben Sie schon eine Idee, die Sie möglichst selbstständig realisieren und promoten können?

Praktikant/in: Logisch. Die 100 besten Top-Covers der Welt. Ich dachte, cooles Zeug kann hier nichts schaden.

Totales Schweigen brach unter den zwölf Mitarbeitern aus.

Ich wusste nicht, was die anderen dachten, aber ich dachte, dass man cool inzwischen nicht mehr sagen durfte. Allerdings war ich mir nicht ganz sicher und dachte, dass ich keine Lust hatte, das anzudiskutieren. Dann dachte ich, dass es langsam wieder reichen würde mit dem totalen Schweigen. Sogar der Geschäftsführer hielt die Klappe, und das kommt wirklich gaaanz selten vor. Ich dachte, dass er langsam etwas abbaute. Ich machte mir eine Notiz.

Das totale Schweigen dauerte. Bis sich endlich dieses ekelhaft knarrende alte Tor ganz geöffnet hatte.

Bis das Tor zur Hölle ganz offen war.

Dann öffnete sich der Mund unserer Musikredakteurin, aber die Bildredakteurin war wieder mal schneller: Die 100 besten Top-Covers? Oder vielleicht besser „In 50 Covers um die Welt?“

Ich dachte, dass mir diese Kleingeister am A. vorbei auf den S. gingen. Man darf die Worte nicht mehr aussprechen. Was ja manchmal sogar nicht so schlecht ist. Ich dachte auch, dass die Jalousie an unserem Zeitfenster langsam unten war. Ich dachte, dass unser Literaturredakteur endlich mal einen im altmodischen Sinne grundsoliden Aufsatz über die Aktualität Robbe-Grillets schreiben sollte. Anstatt auch noch dem schlechtesten der hundert schlechtesten skandinavischen Top-Krimis auch noch einen zu blasen. Es gab sogar Gerüchte, dass er selbst unter Pseudonym… also quasi, um sich selbst… aber ich bin zu alt, um auf…

Ich sagte zum Praktikant/in: Super Idee! Hau rein! Don´t think twice! Und lass dir von diesen Arschgeigen nichts erzählen, wenn du sie am Kaffeeautomaten triffst. Gibt´s ein Problem, kommst du zu mir. Ende – wir moven on!

Naturgemäß war es meine Pflicht, die Idee des Praktikanten/in zu verbessern. Der gute Profi hilft dem Neuling (der böse beklaut ihn). Ich drückte ihm aufs Auge, dass seine Top-Liste der besten Top-Covers 101 Positionen haben müsste. Denn das traue sich im abgehalfterten Business der Top-100-(oder 500-gähn-)Listen niemand. Keine Diskussion. (Sprachliche Details erwähnte ich nicht (scheiß auf die beschissenen Klugscheißer)). An sein strahlendes Gesicht werde ich mich auf dem Totenbett erinnern.

Ich sollte es nicht bereuen. Hier also die Nr. 101 der Liste dieses talentierten Kerls:

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ROCK’N’ROLL FEVER (3)

Der 2,34 kg schwere Bildband von Guido Sieber und mir ist das, wofür der so gut wie illegale Ausdruck „kleiner Hit“ erfunden wurde, was heißt, dass der Katalog sich seit zwei Jahren z.B. meistens in der oberen Hälfte der Top-50 für den Bereich „Popkultur“ des größten Buchverkäufers hält. Aber wenn man mal die No.2 war, sieht man jeden Platz unterhalb der Top-5 natürlich auch etwas selbstkritisch… Obwohl wir uns von den Tantiemen eine Villa auf Mallorca (er) und zwei nicht so große Häuser auf der Toscana (ich) kaufen konnten, ist unsere investigative Kreativität kaum gesunken!

Hier eine eher nachdenkliche Episode aus dem letzten Kapitel, S.222: >BLUESPUBLIKUM BERLIN 2009 (Abb. 333) „Vor 15 Jahren (erzählt Guido) saß ich mal in einem Kreis von Galeristen und Kunstsammlern beim Abendessen. Die Jazz-Blues-Rotweintrinker-Fraktion war das, man fährt mit seiner Clique nach Sylt, um Sport zu machen. Und so ein Typ um die 50, mit junger Frau und jungem Kind, erzählt mir, dass er davon träumt, in New Orleans einen Laden aufzumachen. Zu der Zeit hatte John Lee Hooker dieses sehr erfolgreiche Comeback. Und dann sagt ausgerechnet dieser Typ, dass Hooker für ihn gestorben ist, ein Verräter! Hooker hat den echten Blues verraten! Konnte man natürlich nicht so stehen lassen, ich hab an dem Abend auch nichts verkauft.“< (Selbstportrait Guido Sieber, während der Diskussion mit dem Galeristen).