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WAHNSINNIG

muss man doch werden, wenn man nur seine allernächste Umgebung einmal ganz genau durchkämmt.

Plötzlich finde ich also in so einem Stapel Papier die in eigenhändiger Tipp- und Copyarbeit vom 1. Vorsitzenden Tommi Stumpf hergestellte Nr.1 der KFC-Post, auch bekannt als „das fachblatt für bürokratische diktatur“, erschienen womöglich so 1979.

Ich hatte ganz vergessen, dass er sich auf diesen sechs Seiten auch als talentierter Dichter präsentierte: „am ersten tag schuf gott die kneipe“ – ich kürze jetzt etwas ab – „am 2. schuf gott das faß / am 3. den alkohol / am 4. den kellner / am 5. das glas / am 6. tag war der alkohol weg / am 7. tag sprach gott: scheiße, der KFc ist da!“

Und nahe dem KFc-Organ finde ich dann eine 23 Seiten lange Erzählung von Silvia Szimanski, geschrieben, bevor sie ein Buch veröffentlichte. Kein Titel, so gehts los: „Hans hatte den ganzen Tag lang in der Autoschlosserei gearbeitet, und die Sonne hatte ihn zwischen den Beinen geküßt und erregt wie eine Zunge“.

Und dann finde ich dem Kraudn Sepp seinen Hut, also den originalen Kraudn Sepp-Hut! Kann das vielleicht jemand fassen?!

Okeh, der Hut war jetzt aber dann doch erfunden.



WAS SOLL MAN DENN

an einem sonnigen Herbsttag anderes machen, als sich ein altes Gedicht vorzunehmen und es um- und womöglich sogar besser zu schreiben?
HEY CHARLOTTE                                               für Tilman Rossmy

Charlotte ist fünf Jahre alt
eine Freundin meiner Tochter
und sie kam zu Besuch
und ich sagte zu ihr

Hey, Charlotte
hör doch mal dieses Lied
das heißt Charlotte
genau wie du.

Der Rossmy Tilman hat´s geschrieben
und er singt es jetzt
mit seiner Band
nur für dich.

Hey, Charlotte
schön dich zu sehn
es gibt nicht so viel zu erzähln
aber die Tür steht offen.

Charlotte war etwas ratlos
aber sie hatte ja auch
ihren Namen schon oft gehört.
Nicht schlecht, sagte sie.

Hey, Charlotte
du bist ´n tolles Mädchen
ihr zwei seid toll
nur musikalisch etwas zickig
doch das ist okeh.

(1994-2009)



HAMMERMELDUNGEN

Manchmal steht auf der Titelseite eine Headline, von der wir glauben, dass wir ihren Inhalt sofort korrekt in den Kopf laufen lassen und ordnungsgemäß ablagern; dann jedoch stellen wir fest, es dauert Wochen, bis wir den Sinn der Meldung auch nur annähernd erfassen, mit dem Verdacht, ihn niemals vollständig verstehen zu können.

Anfang Oktober habe ich mir zum ersten Mal den neuen bzw. nicht mehr ganz so neuen Freitag gekauft. Angelockt von einer Hammerheadline auf der ersten Seite, die dann im Blatt angemessen breit ausgebreitet wurde.

„Dieter Meier hat mit Boris Blank als Duo ‚Yello‘ vor 30 Jahren Techno erfunden.“

Ich dachte mir dann zuerst, dass ich vor 30 Jahren vielleicht doch etwas weniger mit Sex & Drugs & Rock´n´Roll hätte spielen sollen und dafür meiner musikalischen Umwelt mehr Aufmerksamkeit schenken. Aber es war eben eine andere Zeit, und es sieht so aus, als wäre das nicht mehr zu reparieren.

Wenn ich mich recht erinnere, war das am selben Tag, als ich in der Süddeutschen einen sehr guten Artikel über Rainald Goetz las. Dort wurde aus seinem neuen Buch zitiert; auf einer FAZ-Fete wurde er, Goetz, von Hrsg. Schirrmacher angemacht, er habe doch wohl keine Einladung vorzuweisen, sondern sich durch Frauenkontakte irgendwie Zutritt verschafft. Ich habe dann überlegt, wie man dieses Verhalten des Herausgebers nennen könnte, und alle Worte, die mir dazu einfielen, waren knapp und leicht verständlich.

Dann ergab sich ein selten schöner Moment: alle Assistentinnen und Praktikanten dieses Blocks stellten sich vor mir in einer Reihe auf und sangen ein spontan selbstgedichtetes Lied: „Wir wünschen dem Goetz wie schon immer alles Gute – und dem Rest dann doch die Pest!“

Den zweiten Vers hatten sie – meine musikalische Bildung ist ja nun nicht die schlechteste – aus einem Song der Nuts geklaut. Meiner Rührung tat das aber naturellgemäß keinen Abbruch, und ich belohnte sie mit zwei trainingsfreien Wochen.



DALE WATSON HAT

heute den 47. Ring seines Lebensbaums vollendet, und einige Cowgirls und Trucker und auch (etwas seltsam gepolte) Line-Tänzer und Linetanzhasser und nachdenkliche Intellektuelle zwischen Austin, Texas, und Rattlesnake Mjunik Disko wünschen ihm, dass das Beste aus seiner Vergangenheit das Schlechteste seiner Zukunft sein möge.

Und ich kann hier ankündigen, dass im Herbst 2010 bei der Edition Tiamat eine Sammlung meiner Musikartikel erscheinen wird, und dass Dale Watson darin nicht zu knapp vorkommen wird.

Eine schöne Begegnung, als ich ihn eines Nachmittags in der Schweiz interviewen konnte: er war müde vom Jetlag, war natürlich so höflich und freundlich, wie er nunmal ist, aber er war auch in einer jetlagmäßig assoziativen Stimmung, und erzählte, dass er vorhin aufgewacht und auf den Balkon gegangen sei und dann auf einem gegenüberliegenden Balkon minutenlang einer Frau im Badetuch zugesehen habe. „Der Anblick hat mich glücklich gemacht“.

Ich hatte ihn bis dahin für einen im besten Sinn durchaus konservativen Countrysänger gehalten. Jetzt erzählte er von Veränderungen. Er machte eine tiefe Verbeugung vor den Dixie Chicks und ihrer Courage und gestand, dass er diese nicht gehabt hätte. Er lieferte aus dem Stegreif eine Rede, die jederzeit und überall als großartige Lektion gegen Rassismus und dumpfes Denken jeder Art taugen würde. Und er betonte, dass er sowieso schon länger keinen Wert mehr darauf lege, unter Country Music einsortiert zu werden, denn darunter werde allgemein nur noch eine Art konturloser Mainstream verstanden, der in jeder Hinsicht zu verabscheuen sei. Dagegen schätze er die Heavy-Metal-Trash-Band von Hank III und jeden, der seinen eigenen Weg gehe und sich von den blöden Ansagen der Musikindustrie nicht beeindrucken lasse.

Das alles erzählte er vollkommen gelassen und sorgfältig abwägend und ohne sich kurz fassen zu wollen, und ich bekam soviel Zeit wie ich glaubte haben zu wollen.



AN DIESEM TAGE

in der frühesten Frühe habe ich mich gefragt, was machst du jetzt? Carpe diem und so.  Ich schau in den Fernseher, „Payback“, das wird doch wohl wunderbar passen, so ist es, Mel Gibson räumt auf in „Payback“, und mit nichts von dem, was er in „Payback“ wegräumt, habe ich eine Spur Mitleid empfinden können. Lucy Liu ist auch sehr schön in „Payback“, aber jetzt habe ich doch glatt vergessen, überlebt sie in „Payback“ oder doch nicht? Seltsam, dass ich nicht genau weiß, ob Lucy nun in „Payback“ überlebt hat oder nicht. Sicher ist, dass Mel Gibson und seine Freundin am Schluss „Payback“ lebend verlassen. Ich habe dann sogar gesehn, dass RTL2 „Payback“ zweimal direkt hintereinander gezeigt hat. Hut ab, RTL2, weil du zweimal hintereinander „Payback“ gezeigt hast; wenn du heute „Payback“ den ganzen Tag nonstop hintereinander zeigen würdest, würde ich dich für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen. Aber der Tag ist noch nicht zuende, und ich frage mich, was tun? Ich gehe zum Videomann und leihe mir „Payback“ aus. Vielleicht gibt es sogar ein deutsches Remake zu „Payback“? Ich glaube, ich habe mal gelesen, dass Roland Klick eines gedreht hat, ja, wer denn sonst? Oder es war Uwe Schrader? Auch möglich. Sonst niemand. Herzog möglicherweise, bei Herzog muss man immer mit allem rechnen. Ich glaube, es war Herzog, der ein deutsches Remake von „Payback“ gedreht hat. Ich werde mir heute „Payback“ ansehen, abwechselnd das originale „Payback“ und das deutsche „Payback“. Und das wird dann der beste Tag gewesen sein, den ich je hatte.



LEE MARVINs

„Wandrin´ Star“ plätschert leicht aus der Box, morgens um 9h, da erstarrt man schon für eine Sekunde im Frühstücksraum des Hotels, und fragt sich, höre ich richtig? Und wo bin ich?

Zumal am nächsten Tisch Das plärrende Kind sitzt, und etwa einmal pro Minute gescheit plärrt. Das plärrende Kind ist so 11,5 Monate alt. Die Eltern, um die 30, sind beispielhaft geduldig. Haben aber auch sichtbar 11,5 Monate viel Geplärr mitgemacht. Und ich bin mal wieder erstaunt, dass die Menschheit noch nicht ausgestorben ist. Dass der Anblick gequälter Eltern seit Jahrtausenden keine Folgen hatte. Nicht mit mir, muss doch eigentlich jede/r sagen. Aber der Trieb. Gegen diesen Hammer kommt ja einfach gar nichts an.

Das Kindchen plärrt nervenzerfetzend, verstummt schlagartig, glotzt irgendwas friedlich interessiert an, und brüllt wieder auf, und nach Lee Marvin kommt jetzt „Bonanza“, und danach kommt  das Titel-Thema von „Spiel mir das Lied vom Tod“. Ich schwör´s.

Also nicht nur die Meyer´sche Buchhandlung, sondern insgesamt überhaupt ist es der reine Wahnsinn in Weißenburg. Ich glaube, es hätte auch Robert Johnson gefallen.

Für mein Patenkind habe ich einen kleinen Froschkönig aus weichem Gummi gekauft. Mein Patenkind ist erst 1,5 Monate alt. Trotzdem dachte ich, du kaufst einen Gummifrosch, der nicht quiekt, wenn man ihn in der Faust zerquetscht.



WIE BITTE??? ICH SOLL

übertrieben haben, was Shane MacGowan betrifft?!

(Würde ich es wagen, an einem Wahlsonntag irgendwas zu übertreiben? Käme ich vielleicht an diesem Postwahltag auf irgend´ne andere Scheißidee, als den Kopf in den Sand zu stecken und drin zu bleiben ewig – und drei Tage? Bis die Welt endlich leer und okeh?).

Übertrieben? Dann nehmt doch dies:

I was cruel, I was brash / I never gave a damn about / The beauty that I smashed / No sadist I, I found delight in making my love cry / Now I´d pray for a single kiss of her / To be lashed and crucified.

-(The Song with no Name, 1994)-



WAS WÜRDE SHANE MacGOWAN HEUTE

wenn er könnte, wählen? Woher soll ich das wissen? Wenn er einfach nur ein Guiness wählen würde, fände ich das auch sehr sympathisch.

Was ich weiß, ist dies: ein Künstler, den man manchmal, sagen wir einmal im Jahr für eine Stunde, für den Größten von allen hält, muss schon sehr groß sein, größer als fast alle anderen. Und vielleicht der größte von allen begnadeten Trinkern ist Shane MacGowan auch noch. Und offensichtlich wird er dabei von allen möglichen Göttern beschützt.

Mit seiner Band The Pogues war er berühmt geworden. Mit seiner Band The Popes hatte er dann weitergemacht, und dann hatten auch die  Popes allein weitermachen müssen. Heute ist MacGowan bei den Pogues wie bei den Popes Gastsänger, und wenn er fehlt, entsteht eine Lücke, die nicht zu füllen ist.

Das neue Album der Popes heißt „Outlaw Heaven“ (Shake The Tree Records/Vertrieb: Cargo), und MacGowan ist bei vier Songs Gastsänger. Und wenn er zum Abschluss ganz allein den Song „Loneliness of a Long Distance Drinker“ singt, dann versinkt die ganze Welt neben diesem Lied.

Shane MacGowan, er möge ewig leben – und drei Tage.



CHRISTIAN ANDERS

hatte ich aufgelegt, Single-A-Seite „Lass es uns tun“ von 1978, beim letzten Trashklubtreffen im Kreuzweise, und zwar, weil ich wie meistens der erste war und dann dachte, jetzt könnten die Kollegen langsam auch mal kommen, und weil mir Decker die Single mal geschenkt hatte – so wie er mir mal eine Platte mit Ku-Klux-Klan-Country geschenkt hatte mit seinem großen Humorverständnis -, dachte ich, wenn ich´s jetzt laufen lasse, kommt er, und so war´s auch, während der Anders lief kamen Patsch & Decker rein.

Und während der Anders lief, kam eine junge Frau zu mir und verpasste mir die schönste Anti-DJ-Attacke, die ich in ca. 15 Jahren zu hören geschenkt bekommen habe: „Bitte, bitte andere Musik, ich arbeite in einem Altenheim und muss mir sowas den ganzen Tag anhören, und wenn ich dann abends weggeh, will ich bitte was anderes hören“.

Wir lagen ihr zu Füßen, und Patsch meinte, er wünschte sich, dass er den Anders aufgelegt hätte. Aber ich war´s.

Den Trashklub machen wir nun seit 15 Jahren, und warum wir uns über den ganzen DJ-Deppenscheiß – in Folge von Ulf Poschardts „DJ Culture“ hatte das Berufsbild natürlich nichts anderes mehr verdient – kaputtlachen oder über so Ausdrücke wie Soundsystem und DJ-Namen sowieso, kann vielleicht meine so in etwa, allerdings nicht in dieser Reihenfolge, stimmende Set- bzw. Künstler-Liste dieses Abends verdeutlichen (und meine Kameraden haben es im Prinzip auch nicht anders, nur mit ganz anderen Schwerpunkten, gehalten):

Christian Anders, Kamerakino, Kraudn Sepp, Billy Moffet´s Playboy Club, Zen-Faschisten, Trash Groove Girls, Der Durstige Mann, Geile Tiere, Huah!, Wuide Wachl, Rosy Rosy (mit „Busenstar 68“ auf dringendsten Wunsch von der Julia von der Münchner Damenkapelle), Der Scheitel, Rhythm King & Her Friends, Milch, Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot, Family5, Familie Hesselbach, Geisterfahrer, Freiwillige Selbstkontrolle, Ichfunktion, Freygang, Fink, Guz, 39Clocks, Blacken The Black, The Presidents Of The United States, Fred Adrett, Wolfgang Protze & Instrumentalgruppe des Erich-Weinert-Ensembles (mit „Guten Morgen, Herr Frisör“) …

Einige der Künstler waren mehrmals zu hören, an andere kann ich mich im Moment noch nicht erinnern. Ansonsten war die Vorstellung  eigentlich ganz okay soweit.



DIE WIESN DIE WIESN

ist – von allen ungemahten Wiesen – schon die schönste. Und selbst wenn man schon beim Dirndlanziehen hackedicht ist, gibt es einen Grund hinzugehn. Ich habe ihn in der Süddeutschen Zeitung vom 21.9.2000 beschrieben (und der Artikel ist, von der gesellschaftlichen Position Dr. Stoibers und vom von uns gefahrenen Haider Jörgl mal abgesehen,  nicht so durch wie die  Supermodels vom letzten Jahr):

Das Herz von der ganzen Wiesn

Die Krinoline, ihre Blasmusik und ihre erste CD

Am dritten Wiesnabend um halb Sechs wird’s spannend an der Krinoline, dem ältesten Fahrgeschäft auf dem Oktoberfest. Sechs Polizisten kommen zum Karussell gerauscht, und ein Schwung Medienleute ist auch da.

Fotoausrüstungen, Fernsehkameras. Was wird denn jetzt hier wieder gespielt? Kommt der Stoiber? Der Haider? Oder beide zusammen?!

Warum nicht ? Aber jetzt nicht. Die eine Truppe redet ein paar ernste Takte mit einigen jungen Burschen, denen das böse Wiesnkoks weniger geschadet hätte als die hiesige Lieblingsdroge. Und die andere Truppe hat die fünf Musiker der Krinoline Blaskapelle im Visier. Denn die kann in ihrem 63. Jahr ihre erste CD präsentieren: „Biermusik!“ Der Titel kommt vom Tenorhornisten Franz Fürst: „Wir spielen keine Volksmusik, wir spielen Biermusik!“ Eben, wo doch die Wiesnvolksmusik bei all den Alpenyuppies gut aufgehoben ist, mit deren Spielen und Trachten die Krinoline-Combo etwa so viel zu tun hat wie ein Vilsmaier-Film mit einem von Achternbusch. Oder das Karussell mit dem riesigen Olympia-Looping, vor dem es aufgebaut ist; wie der Hightec-Maschine zum Fraß vorgeworfen schaut’s aus der Entfernung aus. Aber es ist unwahrscheinlich, dass das tolle Ding die gemächliche Attraktion seit 1924 überleben wird. Gemächlich? Vorsicht. Das Drehen und dabei Schaukeln hat’s in sich, wie die Krinoline eben, der „schwingende Reifrock der feinen Damenwelt um 1860“. In Begleitung der so unmilitärisch klingenden Kapelle, die in einem an der Außenwand befestigten Kabuff sitzt und die man beim Fahren ständig lauter und wieder leiser hört, entsteht eins der schönsten mir bekannten Gefühle.

Die Brüder Sepp und Franz Schmid stehen im Mittelpunkt des Abends, denn die beiden Flügelhornisten sind nicht nur die Seele der Kapelle. Allein dies ist schon eine kräftige Lokalmeldung: Die ältesten Münchner Zwillinge – mit 90 das erste Album! Die langjährigsten Wiesnmusiker sind sie sowieso. Seit der ersten Nachkriegszeit haben sie sich durch fast alle Bierzelte gespielt, ehe sie vor bald 30 Jahren in die Krinolinen-Band eingestiegen sind, und damit entkommen dem „ganzen Rauch und Radau“ und auch dem Dirigenten – so eng ist es, dass die Drehscheibe, wenn sie am Höchsten schwingt, ihm glatt den Kopf abschneiden würde, so nah sind die Fahrer den Musikern.

Die „Schmid Buam“ stellen sich für die Fotografen auf. Sie sind stolz, sie freuen sich wie die Schneekönige und sie strahlen so viel Würde aus, dass die Wiesn für eine Minute verstummen müsste. Wir möchten nicht glauben, dass das ihre letzte Saison sein soll.

Diese Musik „strahlt einen geradezu exotischen Reiz aus“, bescheinigte sogar die Sänger- und Musikantenzeitung. Weil eine fünfköpfige Blasmusik eine schön abgespeckte, verfremdete Blaskapelle ist und somit auch der letzte Gassenhauer neu und ungewohnt klingt, speziell für’s Quintett arrangiert. Die schmale Besetzung hat sich aus Platz- und Finanzgründen ergeben, und ihr Sound aus der Notwendigkeit, sich der eleganten Karussell-Bewegung anzupassen: Die Musik ist weich und gefühlvoll, eigentlich nicht weiter weg von Swingjazz als von Blaskapellenmusik, deren Zackiges und Marschierendes verbannt wurde. Das gehört zur großen Schmachtfetzenmusik, so in der Mitte zwischen Mariachi und finnischem Tango. Wenn’s einen echt bayerischen Soul gibt – das muss er sein.

Der Groove des Karussells

Vor allem die Schmid-Brüder stehen für diesen einzigartigen Klang, und deshalb hat die Plattenfirma Fischrecords für die CD die Kapelle um sie herum gebildet (vom Krinoline-Stamm sind die Tenorhornisten Franz Fürst und Sigi Kaiser dabei und an der Tuba Sepp Preis). Im Tumult am Karussell kann der Musik nie die ganze Aufmerksamkeit gehören, und so ist das Album (das am Fahrgeschäft sinnigerweise nicht verkauft werden darf) mehr als nur ein Souvenir, ohne Publikum, aber live, an zwei Tagen im Studio eingespielt. Im Begleitheft entdeckt man Worte wie „Groove“ und „Bavarian Bluenotes“ („kleine musikalische Unsauberkeiten“, die im Interesse eines blitzsauberen Gesamteindrucks nicht weggesäubert wurden); das ist ungewöhnlich für eine Platte mit Volks-, pardon Biermusik, und es stellt sich die Frage, wer das endlich einmal dokumentiert hat.

Wird schon kein Zufall sein, dass Fischrecords nur eine Art Bastard der Volksmusik-Szene ist. Dahinter stecken Hans-Peter Falkner, bekannt als Ziehharmoniker des heftigen Linzer Duos Attwenger („wir probieren gerade neue Songs“), der andererseits mit astreiner Volksmusik aufgewachsen ist und sie mit seinen Eltern schon lange spielt; und zweitens Hias Schaschko, Münchner Postkartenverleger, Grafiker, „Intim-DJ“, Musikherausgeber und seit vielen Jahren Krinoline-Fan. Er hatte schon die Fäden gezogen, als die Krinoline-Band 1992 bei einem Attwenger-Konzert den Anheizer machte. Es ist ihre siebte CD mit alpenländischer Rootsmusic. Dokumente, aufgenommen, ehe sie zwischen den Blöcken porentief reine Museumsvolksmusik und Volksballermann womöglich verschwunden sind.

Während die zweite Schicht der Krinoline-Blaskapelle zu arbeiten anfängt, steigt im Hinterhof eine kleine Feier, eingeklemmt zwischen Karussell und rasendem Looping. Kein Außenstehender käme beim Anblick der Gäste auf die Idee, dass hier die Herzkapelle der Wiesn geehrt wird, und andererseits fehlen die bei „Release Parties“ üblichen Angebergestalten. Die Bewirtung ist optimal, Augustiner vom Fass und Brezen. Karussell-Chef Theo Niederländer, der Enkel des Begründers, der dieses Unikum nur einmal im Jahr mit Liebe zum Detail aufbaut, hält bescheiden eine kurze Rede, und die von Schaschko ist ganz kurz. Kein Getue, keine Scheinwerfer, und Musiker mit sonnigem Gesicht. Neben der Musik ist es das, was alle an diesem Album Beteiligten verbindet: nirgendwo ist was Aufgemotztes im Spiel – an diesem Ort!

Die Aufgänge zum Karussell sind schwer belagert. Erwachsene vier, Kinder drei Mark (Verliebte frei, das fehlt noch). Die Welt dreht sich und man erkennt doch alles genau auf der leuchtenden Wiesn. So sieht sie gut aus. Und die Krinoline Blaskapelle spielt „La Paloma“. Wem jetzt das Herz nicht brennt, der hat nur eins aus Lebkuchen.

(Die CD „Biermusik!“ gibt’s im Fachhandel, Vertrieb Indigo/Hoanzl, die Live-Musik täglich von 15 bis 23 Uhr auf der Wiesn.)