Produktion

HANS FRICK

einer der großen deutschen Schriftsteller, wäre heute 85 geworden. Anfang Februar 2003 war ich gezwungen, einen Nachruf auf ihn zu schreiben (abgedruckt auch in Sterne und Straßen, Edition Tiamat, 2004):

UM SEIN LEBEN SCHREIBEN

»Die Lesungen in Frankfurt (im völlig überfüllten Jazzkeller mit MANGELSDORFF) und in Stuttgart waren gut«, schrieb der Frankfurter Schriftsteller Hans Frick im September 1977 an den Presse-Chef des Bertelsmann Verlags, wo gerade sein neues Buch Die Blaue Stunde herausgekommen war.

Es war scheinbar eine gute Zeit für den 47-jährigen etablierten Autor. Der Regisseur Helmut Käutner hatte soeben seinen 1972 veröffentlichten Roman Mulligans Traum angemessen großartig verfilmt, mit Helmut Qualtinger in der Hauptrolle. Und es war nicht irgendjemand, sondern Jörg Fauser, der 1979 für das Berliner Tip-Magazin in einer langen »Hommage an Hans Frick«, die zugleich eine Tirade gegen die deutsche Gegenwartsliteratur war, dies schrieb: »Ich weiß, dass es in meinem Land nur einige wenige Schriftsteller gibt, die das Papier wert sind, auf dem ihre Bücher gedruckt werden. Einer von ihnen ist Hans Frick.«

Der etwa zur selben Zeit Schluss machte. Mit Schreiben. Er hatte sich fast tot gesoffen, schaffte es, sich für ein Weiterleben ohne Schreiben zu entscheiden und verschwand nach Spanien. Sein letzter Roman Die Flucht nach Casablanca erschien 1980, die Geschichte eines ehemaligen Boxers, der den Alkohol nicht besiegen und in der Gesellschaft keinen erträglichen Platz finden kann und von einem neuen Leben träumt.

Alle Romane von Hans Frick sind düstere, verzweifelte, quälende Ausflüge in die Hölle auf Erden. In seinem Debüt Breinitzer oder Die andere Schuld erzählte er 1965 von einem KZ-Arzt, der in Visionen von seinen Opfern verfolgt wird und sich selbst vor Gericht zu bringen versucht, erfolglos, schließlich ist der Judenvernichtungs-Kram im Nachkriegsdeutschland längst abgehakt. Fricks Blick auf die BRD hatte nichts Versöhnliches: »Sie haben es getan und sie werden es jederzeit wieder tun, wenn es ihnen gestattet wird.«

Erich Maria Remarque schrieb eine Hymne darüber im Spiegel – und Frick eine Neufassung seines Debüts, die 1979 mit dem Titel Breinitzer herauskam (gewidmet seinem Freund Fritz Bauer, der im so genannten Ausschwitz-Prozess Generalstaatsanwalt war).

Das Thema Nazis/BRD war auch in Der Plan des Stefan Kaminsky präsent, der im Frankfurter Zuhälter-Milieu angesiedelt war. Frick stellte eine Verbindung her zwischen gnadenlosem Geldmachen und der herrschenden Ansicht, mit den Nazi-Verbrechen wäre genug abgerechnet.

Stilistisch und thematisch wurde der Autor zurecht immer wieder mit Kafka verglichen. Nur mit dem Roman Dannys Traum veröffentlichte er 1975 etwas für seine Verhältnisse leichteres, in der Nähe eines Thrillers und eines Johannes Mario Simmel; aber seine Hauptperson, der Unterschicht-Rock’n’Roll-Junge Danny schaffte es natürlich nicht in ein besseres Leben.

Über die persönlichen Dämonen, die hinter seinen Romanen standen und ihn dann besiegen sollten, schrieb Frick autobiographische Berichte mit geradezu brutaler Offenheit. Nachdem sein kleiner Sohn von einem Auto tot gefahren wurde, schrieb er Henri (1970), danach das Tagebuch einer Entziehung (1973). Und in Die Blaue Stunde erzählte er von seiner Jugend im Frankfurt der Nazi- und Nachkriegsjahre und vom elend armen Leben seiner Mutter. Sie wohnten in der Ginnheimer Straße, dann in der Lahnstraße, und überall wurde die Mutter als »dreckige Judenhure« beschimpft, weil sie ein uneheliches Kind von einem jüdischen Kunsthändler hatte. Der »Halbjude« Hans Frick wuchs mit der Angst auf, die Nazis könnten ihn jederzeit abholen – und er wusste, was sie mit den Juden machten.

Ich muss es betonen, diese autobiographischen Berichte sind nicht nur Dokumente, sondern gehören zum stärksten der deutschen Nachkriegsliteratur.

Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren hatte Frick leider einen treuen Freund: Selbstzweifel. Er hatte nie ein Gymnasium besucht oder studiert, sondern sich als Vertreter und Arbeiter durchgeschlagen, und die Ansicht, ein Schriftsteller könnte etwas erfinden, immer abgelehnt. Als er dann zwei Flaschen Cognac pro Tag brauchte, um seinen Stoff in Sprache zu übersetzen, hörte er auf, um sein Leben zu schreiben.

Seine kleine Mansardenwohnung in Frankfurt behielt er bis zuletzt. Einmal jährlich kehrte er mit seiner Frau Karin zurück, um diverse Krankheiten behandeln zu lassen. Als ich ihn dort im Herbst 2001 besuchte – jemand hatte ihm mein Buch Bierherz gegeben, in dem ich mich mit nur ein paar Zeilen vor seinem großen Werk verbeugte, und er lud mich ein – erzählte er vom Glück, dass er mit dem Schreiben aufhören, nach Spanien ziehen und dann Häuser renovieren konnte(*:s.unten); dasselbe habe er übrigens Jörg Fauser empfohlen, als er ihm Jahre nach diesem Artikel einmal begegnete. Der ehemalige Boxer war schon schwer angeschlagen, der Körper, nicht der Kopf. Er war nicht unglücklich oder überrascht, dass sein Werk seit Jahren so gründlich vergessen ist. Er unterhielt sich viel lieber, ein Fan mit riesigem Wissen, über Jazz und Country, und ich war auch glücklich, dass er zu den wenigen Menschen gehörte, für die das keine unversöhnlichen Gegensätze sind.

Natürlich musste ich mich in Rage reden. War das vielleicht keine Schande! Dass sein Werk so vergessen wurde, und Jesus, wenn man sich die Autoren seiner Generation so anschaute, stilistisch, inhaltlich! Er erzählte ein paar Schoten, wie er sich brüllend mit diesem und jenem auf der Buchmesse gestritten hatte, und ich sagte, ach, verflucht, warum war es denn ausgerechnet er, der aufhören musste.

Er winkte ab. Er winkte sanft lächelnd ab. Weit weg von dem ganzen Mist.

Hans Frick starb nach Monate langem, schweren Leiden am dritten Februar 2003 im Alter von 72 Jahren in einem Krankenhaus in Huelva, Spanien.

(* Nachtrag: hier hatte ich etwas missverstanden, Hans Frick hatte zwar ein Haus renoviert, aber dann keinen Job draus gemacht…)



CATWALK SMALLTALK (8)

ICH MÖCHTE IN EINEM LAND LEBEN, IN DEM SO FIGUREN WIE DR. JUR. MARKUS SÖDER, BAYERISCHER STAATSMINISTER DER FINANZEN, FÜR LANDESENTWICKLUNG UND HEIMAT, EINGEBUCHTET WERDEN FÜR DAS, WAS SIE SO SAGEN.

PASS AUF, HINTER DIR.

DEMGEGENÜBER WÜRDE ICH ALLEN FAHRRADFAHRERN, DIE MICH AUFM FUSSWEG TERRRRORISIEREN, GERNE DIE HAND KÜSSEN.

FLY ME TO THE MOON AND KISS ME.

PISS ME WITH YOUR POETRY.

DANN ABER NOCH DAS STRAFMASS.

DIE DETAILS KRIEGEN DIE DORT SICHER AUCH NOCH HIN.



NACHTSESSION

Hier zum Nachhören in zwei Teilen die br2-Sendung „Nachtsession: Nachtspaziergang“ vom 29.6. mit Ralf Summer und seinen Gästen Das Hobos (Tom Simonetti) und Franz Dobler, die auch die Musik ausgewählt haben:

 



NIGHT TRAIN

Bayern2Radio Nachtsession / Mit Ralf Summer / Nacht auf Montag, 29.06.2015:  00:05 bis 02:00 Uhr

Musikwanderung durchs nächtliche Augsburg: Unterwegs mit Franz Dobler und Das Hobos

„Beide Namen kennen wir schon länger im Zündfunk und auf Bayern2: Autor und DJ Franz Dobler hat gleich mit seinem ersten Krimi „Ein Bulle im Zug“ den Deutschen Krimipreis 2015 gewonnen. Und die Dub-Folk-Band Das Hobos sind die ersten Preisträger des „Roy“, des neuen Musikpreises der Stadt Augsburg (benannt nach Roy Black, einem Sohn der Stadt). Für diese zweistündige Sendung führen uns die beiden Künstler von Mitternacht bis 2 Uhr durch ihre Stadt und legen nebenbei ihre Lieblingslieder auf – u.a. von A Million Mercies & Broken Radio, Beló, Holger Czukay, The Dead Brothers, Nick Drake, Hipbone Slim & Mama Rosin, Mars Needs Women, Nightmares On Wax, Photay, Portmanteau oder Yves Simon. Und wir dürfen in Unveröffentlichtes von Lydia Daher und LeRoy – einem Ableger von Das Hobos, reinhören. Der Spaziergang mit Musik wird am Grandhotel Cosmopolis beginnen, dem interessantesten Kulturprojekt der Stadt: der „sozialen Skulptur“ zwischen Asylbewerberwohnheim, Volxküche und Künstlertreff. Und wie es sich für Bahnfreunde wie Dobler und Das Hobos gehört (für sie ist Tom Simonetti dabei), geht es an den Gleisen entlang.“



ICH GEH EINFACH REIN

Neue Version der alten Geschichte aus Jesse James und andere Westerngedichte mit Christopher Kochs/dr und Bill Bley/b (von Hokum Drive) und Lou Thompson/steel und Norbert Crook/p (von Steve Train & His Bad Habits), live vom 22.5.

 



PAAR NOTIZEN POST GÜNTER GRASS

(erschienen in der jungen Welt vom 12.5.2015 mit dem Titel Ungeheuer oben)

Ich habe so mit achtzehn Die Blechtrommel gelesen, vermutlich weil ich gehört hatte, der Roman wäre nicht nur bedeutend, sondern skandalös. Ich las nie wieder ein Buch von Grass. Von Neuerscheinungen habe ich mal paar Seiten gelesen, weil man manchmal wissen will, wie der deutsche Topautor so schreibt; ich war immer desinteressiert bis fassungslos. Ereignisse wie Nobelpreis, SS-Geständnis, Israel-Gedicht bekam ich natürlich mit.

In dreißig Jahren Betriebszugehörigkeit habe ich eine Menge Schriftsteller kennengelernt. Egal, ob sie underground oder etabliert waren: ich kann mich nicht an eine einzige Stimme erinnern, die gesagt hätte, wenn´s drüber ging, wen von den Älteren man gut findet: Grass! Was mir seltsam vorkommt, wenn man sich die riesige Resonanz zu jedem Grassbuch oder nach seinem Tod ansieht. Sagen nur befreundete Autoren und Empfänger eines Grass-Stipendiums was Nettes? Und ist die irre Beachtung des Feuilletons nur ein besonders krasses Beispiel für die Kluft zwischen Literaten und Literaturverwaltung/-kritik? Keine Ahnung.

Warum ich´s nie schaffte, nochmal mehr Grass zu lesen, ist mit dem gesagt, was Gerhard Henschel zu dessen Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel 2006 schrieb (nachzulesen in Henschels Sammlung Beim Zwiebeln des Häuters): „Als die Geschichte“ mit der Waffen-SS „an den Tag gekommen war, verfinsterte sich für leichtfertige Medienkonsumenten selbst die Aussicht auf ein grassfreies Viertelstündchen.“ Während Grass verkündete, „dass die Kontroverse für ihn selbst >existentiell bedrohliche Ausmaße angenommen< habe“. Kommentar Henschel: „Es gibt nicht viele Menschen auf Erden, die existentiell weniger bedroht sind als Günter Grass. Ungeheuer oben thronend aber greint er, sobald ihm jemand widerspricht, dass man ihn zu vernichten trachte.“

Und dann die Grass-Zitate, nur ein Beispiel: „Danach ist immer davor. Was wir Gegenwart nennen, dieses flüchtige Jetztjetztjetzt, wird stets von einem vergangenen Jetzt beschattet, so dass auch der Fluchtweg nach vorne, Zukunft genannt, nur auf Bleisohlen zu erlaufen ist.“ Henschel stimmt der Einschätzung von Eckhard Henscheid zu (die sich übrigens von der Jörg Fausers nicht unterscheidet), dass „ausgerechnet der altbackenste, penibelste, moralinhaltigste, vereinsmeierlichste, autoritätsfixierteste und ängstlichst hierarchiebedachteste Schriftsteller der zweiten Jahrhunderthälfte (…) als barock und berserkerhaft, als üppig und revoluzzig, als anarchisch und häretisch, in summa: als humoristisch fehlkatalogisiert wurde und mitunter noch wird …“ (Mitunter ist gut, sage ich heute.) Und Grass hatte auch noch Martin Walser als Verteidiger: „Der Mündigste aller Zeitgenossen kann sechzig Jahre lang nicht mitteilen, dass er ohne eigenes Zutun in die Waffen-SS geraten ist. Das wirft ein vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch.“ Worum´s tatsächlich geht, erwähnt Henschel am Anfang: „In welcher Uniform er im Frühjahr 1945 herumgelaufen ist, wäre unerheblich, wenn er selbst bis zum Versand der Rezensionsexemplare kein Geheimnis daraus … gemacht hätte.“

Nicht bei Grass´ Tod, sondern nach dem Lesen von paar Nachrufen erinnerte ich mich ganz vage an Geschichten, von denen da nichts erwähnt wurde und dachte, da suchst du mal rum. Hätte ich wohl nicht tun müssen, wenn ich die von Klaus Bittermann herausgegebene Sammlung Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebsintriganten Günter Grass. Unser Ständchen zum 80. Geburtstag kennen würde. War da nicht was mit Heinar Kipphardt? Der im Verlagstext zu diesem Anti-Grass-Buch so zitiert wird: G.G. sei einer, „der mit der SPD in alle Arschlöcher kriecht, in das des Papstes inklusive“. Hart, aber warum?

Auf der Webseite der Münchner Kammerspiele ist der Fall dokumentiert (http://100mk.de/dra_dra.html): 1971 wurde dort das Biermann-Stück Dra-Dra aufgeführt; die „Drachentöterparabel handelt von einem furchterregenden Drachen, der das ganze Land arm frisst und das Volk terrorisiert“. Chefdramaturg Heinar Kipphardt war für das Programmheft presserechtlich verantwortlich, in dem Dramaturg H. und Regie-Assistent G. „24 Fotos von westdeutschen Machthabern aus Wirtschaft, Politik und Publizistik als symbolische Drachen“ abbilden wollten, darunter Münchens SPD-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel. Diese Idee wurde jedoch „aus juristischen Bedenken“ nicht ausgeführt – und kam dennoch an die Öffentlichkeit, zum Bürgermeister, zu Grass, der zum Hauptredner der folgenden Debatte wurde. „Am Ende wurde Kipphardts Vertrag mit den Kammerspielen vom Münchner Kulturausschuss nicht verlängert, obwohl August Everding (damals Generalintendant, A.d.V.) ihn gerne in seinem Haus behalten hätte. Die Drachen spielten ihre Macht aus. Der Denunziant ist bis heute nicht bekannt. Kipphardt musste unter großem Protest des Ensembles und von Kollegen die Kammerspiele verlassen.“

Kipphardt hatte in der Debatte geschrieben: „Jemand könnte fragen: Wenn nun diese gemeingefährliche Bekanntgabe von Kapitalmacht und deren Interessenvertretung glücklicherweise gar nicht veröffentlicht wurde, warum veröffentlichte das dann Günter Grass, und wieso hat er gekannt, was nicht erschienen ist?“ Laut Spiegel 22/1971 hatte Grass in der Süddeutschen Zeitung geschrieben: „Mein Schriftstellerkollege Heinar Kipphardt (…) ist unter die Hexenjäger gegangen“, er sei „dumm und gemeingefährlich“ und „ein Denunziant“, der „schlimmste deutsche Tradition“ fortsetze. Grass machte damit „etwas existent, das zuvor nicht existierte“, hieß es im Spiegel – etwas, das nicht existierte, interpretierte Hans-Jochen Vogel als Aufforderung „zur Ermordung des Oberbürgermeisters“. Ist lange her (und es war noch lang hin bis zu Grass´ SS-Outing), jedoch: „bis heute etwa behauptet Günter Grass wider besseres Wissen, dass Kipphardt Anfang der 70er Jahre zur Ermordung von SPD-Politikern aufgefordert habe“, schrieb Jörg Sundermaier in der taz vom 30.3.2013.

Ich hatte noch eine (womöglich verdrehte) Erinnerung: war da nicht was mit dem Zeichner Ernst Kahl? Hatte er den (sicher unterschätzten) Künstler bzw. Aquarellisten Grass nicht mal parodiert? Ich machte mich an die Arbeit, in meiner mies geordneten Bibliothek nach Kahl-Veröffentlichungen zu suchen. Kam einiges raus; und dass ich die S.3 von Konkret, die jahrelang ein Kahl-Werk brachte, jahrelang kopiert und gesammelt habe (ha, du hast deine Freizeit gelegentlich sinnvoll genutzt!). Schließlich, als ich schon dachte, okay, dein Gedächtnis kannste jetzt langsam auch vergessen, konnte ich mich mit dem Katalog Kahlschläge von 1991 beruhigen.

Auf S.104 präsentiert Ernst Kahl den „Volkshochschulkurs >Zeichnen wie G. Grass in Kalkutta<„: Das erste von sechs Panels ist ein Zeitungsfoto: auf dem Schoß einer Madonna-ähnlichen Frau sitzt ein sichtlich halbverhungertes Kind, auf dessen Kopf ihre schützenden Hände liegen. Darunter beginnt der Zeichenschule-Text: „Nicht jede(r) hat Zeit, bzw Geld, sich vor Ort ein Bild zu machen. Ihr (ihm) sei empfohlen, eine Vorlage aus der Zeitung zu benutzen.“ Dieses Foto wird im zweiten Panel mit den ersten Strichen nachgemalt: „Wir beginnen mit der zarten Umrisszeichnung auf handgeschöpftem Bütten. Dazu verwenden wir den Stift mit Rattenkötelmine … “ Mit jedem Panel wird das Bild sozusagen fertiger, bis am Ende ein Aquarell á la Grass, das obendrein Geschriebenes enthält, vollendet ist: „Um Papier zu sparen und um dem Ganzen formalen Halt zu geben, schreiben wir uns unsere Betroffenheit von der Seele direkt in´s Bild. Nun geben wir es in einen schlichten Goldrahmen und lassen´s etwas ziehen. Fertig!“

Ich habe Günter Grass literarisch nicht das geringste zu verdanken, aber ich bin ihm dankbar, dass ich jetzt mal wieder einen glücklichen Nachmittag mit Ernst Kahl verbringen durfte.

Deshalb möchte ich zum versöhnlichen Abschluss, für wen auch immer, erwähnen, dass ich einmal an meiner literarischen Einschätzung von Günter Grass für Sekunden gezweifelt habe. In der umfangreichen Darstellung Die Beat Generation von Steven Watson ist auf S.295 diese Liste von ca. 1963 kommentarlos abgedruckt: „Die Neon-Revolution, laut Ken Kesey: Lenny Bruce, William Burroughs, Ornette Coleman, Günter Grass, Anna Halprin, Wally Hedrick, Joseph Heller, New-Wave-Filmemacher, John Rechy“.

Darauf einen Brecht: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“



MEINE 3 ANTWORTEN

für die „Nur drei Fragen“-Kolumne in der die welt kompakt:

Welches Buch wollten Sie niemals missen – und warum? + „Wörterbuch der Gemeinplätze“ von Gustave Flaubert. Es ist so komisch, und scharfes Training für den Denkapparat, und man hat immer den Feind vor Augen.

Nennen Sie uns bitte das Zitat, das auf Sie den größten Eindruck gemacht hat. + „Du hast keine Chance, aber nutze sie“ – von Herbert Achternbusch.

Was bereitet Ihnen beim Schreiben die größten Probleme? + Ist der letzte Satz gut? Könnte er denn nicht besser sein? Habe ich genug Ahnung vom Raum hinter seinen Worten, und warum kann mich die Welt dort draußen bei diesen Problemen nicht wenigstens mal für eine Weile in Ruhe lassen?!

In seiner Einleitung meint Philip Haibach, ich hätte mit Ein Bulle im Zug „den lässigsten Roman des ausgehenden Jahres auf die viel befahrenen Gleise der deutschen Gegenwartsliteratur geworfen“.

http://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_literatur/article135202560/Nur-drei-Fragen-Herr-Dobler.html



LETZTE STORIES: Q wie QUELLEN

Im Münchner Stadtmuseum ist bis 28. Juni eine Retrospektive des Fotografen Anders Petersen. Es war nicht sein Foto auf dem Tom Waits-Album Rain Dogs, das mich zu meiner Kurzgeschichte Quellen (in Letzte Stories, 2009) inspirierte, sondern der Bildband Café Lehmitz

    QUELLEN

Soll ich dir mal was sagen? Ich glaube, ich bin ganz übel verarscht worden“, sagte Margot, „aber mit mir kann man´s ja machen.“

Nicht nur mit dir, Madame, das ist die traurige Wahrheit“, konterte ich.

Margot hing wie üblich in ihrer acht-Stunden-Schicht auf der Bank und war mal wieder in der Beschwerdeabteilung tätig. Was mich mehr interessierte, war das fette Buch, das auf ihrem Schoß lag. Sah aus wie ein Bildband, und viel zu edel für so eine kleine Arbeitsmaus mit zerschrammter Leber und ohne Gewerkschaftsausweis.

Was hast´n da, hast du dem Bürgermeister sein Familienalbum geklaut?“

Das kannste mir jetzt glauben oder nicht, mir doch egal.“

Sie muckte beleidigt herum, meine Herren, trotz der vielen Schichten, die sie abgesessen hatte, war sie immer noch so sensibel wie eine Auszubildende.

Sie hatte die Bank zu ihrem Firmensitz erklärt. Der aber nicht genug abwarf, um bei einer Bank ein Konto eingerichtet zu bekommen. Wenn ich vorbeikam, überwies ich ihr eine kleine Spende, und es war mir egal, ob sie dann am Abend ihre vier Plastiktüten packte und mit einem dicken Schlitten heimfuhr. Wenn, dann hatte sie sich den Schlitten mehr verdient als jeder andere.

Sie behauptet siebenundvierzig zu sein, und dafür, dass sie der Krise länger ins Auge schaut als alle, die jetzt das Maul so weit aufreißen, dass man ihnen zehn kleine Bankerlein reinschieben könnte, hat sie sich in einer Branche mit überdurchschnittlich hohem Berufsrisiko sehr gut gehalten.

Erzählt aber fast immer, dass sie gerade verarscht wurde. Als würde sie ihre Bank dann doch für ´ne Bank halten.

Also erzähl schon, Margot, wer hat dich denn jetzt wieder verarscht?“

Keine Reaktion. Ich setzte mich zu ihr. Immerhin war es eine Bank, auf der man Klartext reden konnte.

Sag mir den Namen und ich schlag ihn aus seinem verkackten Anzug. Zum Freundschaftspreis, versteht sich.“

Dieser Typ!“, rief sie und haute mit ihren dreckigen Fäusten auf den Bildband.

Sie fing zu blättern an. Ich sah viele große Schwarzweiß-Fotos, und auf eines drückte dann ihr Zeigefinger: „Da! Das bin ich!“

Ich ging näher ran – es stimmte, sie saß in einer Kneipe am Tisch, lächelte betrunken, eine Hand an einer Bierflasche. Sie war jung, hatte so ein Hauruck in den Augen. Der Typ mit dem Kopf an ihrer Schulter war eingeschlafen, und er schien den besten Platz auf dem Planeten bekommen zu haben.

Sie blätterte weiter: „Und da und da und da!“

Die Fotos zeigten sie immer im selben Schuppen. Sah aus wie ein Treffpunkt für Barfliegen, die woanders rausgeflogen waren. Das ganze Buch war voll von ihnen.

Tolle Fotos“, sagte ich.

Vor zwanzig Jahren war das, und weißte, was? Der Kerl ist berühmt geworden! Steht da. Der hat uns alle geknipst und dann hat der Preise dafür bekommen. Findste das vielleicht in Ordnung?“

Du meinst, er hat das nicht verdient?“

Mensch, der hätte mir doch was abgeben müssen! Der hat da einen Sack voll verdient mit, und ich? Bin gearscht. Oder nicht?“

Aber du hast ihm erlaubt, dass er die Fotos macht.“

Hat doch keiner gedacht, Mensch – wenn ich das gewusst hätte!“

Du klingst wie Jesus am Kreuz, Margot. Aber da ist nichts zu machen, das passiert ständig“, sagte ich.

Ein Bekannter von mir hatte Interviews mit einem Dutzend eingebuchteter Hooligans geführt und machte jetzt einen Haufen Schotter mit ihren Ausführungen. Ein holländischer Journalist hatte sich ein paar Monate unter die Penner und fast am Nullpunkt rackernden Schrotthändler auf dieser berühmten Brücke in Istanbul gemischt und dann mit seinem Bericht groß abgeräumt. Eine andere Professionelle mit einem Theaterstück über Illegale in Deutschland, die sie aufgetan hatte, das sie auch zu einem Buch und einem Hörspiel verarbeitet hatte. Was für eine endlose Kette, mit der unendlich viele Parties gefeiert wurden.

Trotzdem“, sagte sie und gab ihrer Bierflasche einen Kuss.

Ich geb dir gratis einen guten Rat, Margot“, sagte ich und stand auf.

Das Problem in eurer Branche ist, dass ihr keine Verträge macht. Denk da mal drüber nach. Und auch über die Freiheit der Kunst. Die darfst du nicht unterschätzen.“

Schätzchen, wenn ich dich nicht hätte“, sagte sie und drückte mir mitfühlend die Hand.

„Ist doch wohl Ehrensache.“



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EIN BULLE IM ZUG (6)

Der Deutsche Krimipreis 2015 geht an:

NATIONAL

1. Platz Franz Dobler: Ein Bulle im Zug (Tropen)

INTERNATIONAL

1. Platz James Lee Burke: Regengötter (Rain Dogs) Deutsch von Daniel Müller (Heyne Hardcore)