Produktion

WIGLAF DROSTE IN WAHRHEIT

Gestern wäre mein alter Freund 59 geworden. Am 15. Mai erschien mein Artikel anlässlich seines ersten Todestags in der jungen Welt:

DIE GANZE WAHRHEIT ÜBER WIGLAF DROSTE

Ausgepackt zum ersten Todestag. Von Franz Dobler

Für unsere Kinder

Der Autor, Journalist, Sänger und langjährige junge Welt-Kolumnist Wiglaf Droste starb am 15. Mai vor einem Jahr, wenige Wochen vor seinem 58. Geburtstag. Ich sage zuerst das, was jetzt wohl viele seiner Freunde und Fans sagen: Ich muss oft an ihn denken, ich würde mich besser fühlen, wenn er noch unter uns wäre, und ich kann nicht glauben, dass er schon ein Jahr tot sein soll.

Dabei waren wir nicht immer einer Meinung. Wir konnten auch über scheinbar unwichtige Sachen heftig diskutieren. Eine Anekdote, an die ich mich in diesen Tagen oft erinnere: Als er sich einmal zu der Ansicht verstieg, die Jogginghose wäre “die Kapitulation der Zivilisation”, und, als er in eine reingestiegen war, sogar behauptete, “der letzte Eisbär auf einer schmelzenden Eisscholle hätte sich nicht einsamer und unglücklicher fühlen können”, wollte ich das nicht unterschreiben. Was mir Wiglaf allerdings nicht übel nahm. Ja, er war großzügig und nicht immer nachtragend.

Auch ein etwas weniger harmloser Twist trieb nur kurz einen Keil zwischen uns. Für seinen kleinen Roman “Schalldämpfer”, den er selbst als “Eine Revue” sah, erfand er das “Kommando Leise Welt”, eine mit ihm 7-köpfige-Männertruppe, die mit nicht immer feinen Methoden gegen die laute Welt kämpft, natürlich mit Schalldämpfern. Schon am Anfang charakterisierte er mich äußerst verzerrend: „Franz, unserem besten Schützen, gefiel das gar nicht. Franz fand Schalldämpfer scheiße und maximal den halben Spaß. Er arbeitete lieber mit einer Abgesägten.“ Meinen Protest, dass ich Schalldämpfer keineswegs prinzipiell “scheiße” finde, glaubte Wiglaf mit dem abgenutzten Begriff von der künstlerischen Freiheit wegwischen zu können. Da war ich eine Weile doch etwas sauer auf ihn. Ja, er hatte auch ein paar Schwächen.

Es machte mich zuerst nicht nachdenklich, dass mir jetzt ständig solche Erinnerungen durch den Kopf schießen – bis mir auffiel, dass es doch außergewöhnlich viele und präzise Erinnerungen sind, von denen ich, und da bin ich sicher nicht allein damit, den Eindruck habe, dass sie ganz direkt und heute zu mir sprechen.

So schrieb Wiglaf Droste schon 2015 den Besinnungsaufsatz “Nie mehr Frieden mit Xavier Naidoo”. Übrigens mit einer Zurückhaltung, die ihm viele immer wieder absprechen wollten: “Dass Dumme und/oder Gemeine sich mit Xavier Naidoo gemein machen, wundert nicht; nur muss man eben kein Recht auf Meinungs- und Auftrittsfreiheit für ihn erstreiten; beide stehen ihm wie jedem zu, und er kann seinen Quark auch bei den kaiserreichstreuen Irrsinnigen von den ‚Reichsbürgern‘ breittreten.”

Ebenfalls im letzten Buch, das zu seinen Lebzeiten erschien, “Kalte Duschen, warmer Regen”, konnte ich diesen Beleg finden, dass Droste längst vor diesen “Querdenkern” gewarnt hatte, die nun seit Wochen von allen politischen Seiten angreifen. Als er für eine vorweihnachtliche “Querdenker Gesucht”-Kampagne von den ihm “nicht gänzlich unsympathischen Greenpeace-Aktivisten” angegangen wurde, notierte er: “<Querdenker> ist eine Bezeichnung für Menschen, die daran gewöhnt sind, mit ihrem eigenen Kopf zu denken und nicht konformistisch mit den anderen Kindern herumzublöken, und die für diese Selbstverständlichkeit aber bitte nicht mit der Invektive Querdenker belegt werden wollen.” Er blieb selten so ruhig wie in diesem Fall, wenn er mit dieser “mündlichen oder schriftlichen Äußerung von absichtlich beleidigendem Charakter” in diesem Topf landen sollte. Ja, er konnte auch über seinen Schatten springen.

Ich bin kein besonders schreckhafter Mensch, finde es aber fast erschreckend, dass der Mann aus Westfalen in der Vergangenheit häufig etwas beschrieb, das in unserer Gegenwart sozusagen aus dem Lautsprecher kommt. Mir wäre wohler, wenn ich behaupten könnte, das liege nur an den Drogen, die wir, viel zu oft im Übermaß, genommen haben bzw. nehmen.

Als im Januar 2017 der Begriff “Volksverräter” zum “Unwort des Jahres” gekürt wurde, schrieb er im Artikel “Volksverräter? Aber ja doch” dies: Wenn eine AfD-Politikerin “<das Völkische> als <wertfreie> Kategorie re-etablieren will, obwohl es dem Wesen nach aggressiv antisemitisch, brandsatzgefährlich nationalistisch und vielfaltsfeindselig ist, bin ich mit allen Freuden der Vernunft und der Empathie gerne das, was als <Verräter> stigmatisiert wird”, und “so verhält es sich auch mit dem <Wir-sind-das-Volk!>-Volk” – das offensichtlich nur Atem geholt hat, als wir bis vor kurzem noch dachten, es würde jetzt die Klappe vielleicht mal etwas weniger weit aufreißen. Ja, er schlug zu, wenn es sein musste.

Als er mir dann vor wenigen Nächten im Traum erschien, erschrak ich nicht, sondern hatte unbewusst damit gerechnet. Ich träume so viel und heftig, dass ich das Interpretieren aufgegeben habe. Dieser Traum war klarer als die Realität.

Wir sahen uns, auf einem roten Sofa sitzend, vollkommen allein auf einem leeren Platz vor einer Kirche, vor der eine große Leinwand aufgebaut war, den neuen Song von Danny Dziuk an, “Der strahlend blaue Himmel dieser Tage”, den er in echt soeben auf Youtube veröffentlicht hatte. Danny selbst hatte dazu die Befürchtung geäußert, es handle sich dabei um “noch ´n Coronasong”, den “die Welt jetzt ganz sicher braucht”. Wiglaf und ich waren uns sofort einig, dass der Song von viel mehr als nur diesem Virus erzählt und Danny ein großer Poet und Songster ist, der aus allem alles machen kann. Die beiden haben einige Songs zusammen geschrieben und gesungen. “So geht´s weiter”, sagte Wiglaf. Stand auf, ging davon. Als ich ihm nachrief, er solle doch mal kurz warten, winkte er, ohne sich umzudrehen. Erst später erkannte ich, was er beim Weggehen gesummt hatte: “I won´t back down.”

Und dass es genau dieser Song war, passte zu einigen Spuren, die ich zwar schon lange kannte, aber erst jetzt verstand. So lauten die Zeilen, die seinem letzten Gedichtband “Tisch und Bett”, dessen Veröffentlichung er nicht mehr erlebte, vorangestellt sind: “Das Leben macht immer, was es will. Manchmal scheint es bereit, sich zum Guten zu fügen. Aber auch damit kann man sich immer betrügen. Ich will nicht maulen und bin jetzt mal still.” Und noch deutlicher, obwohl ich nicht weiß, was genau es bedeutet, scheint mir das Gedicht “An einen alten Freund”, das in dieser Zeitung am Tag nach seinem Tod erschien: “You are the Joker / I am the Joke“. Ja, er hat nicht immer alles erklärt.

Das sind die nackten Fakten: Da waren viele Männer, die weniger sagten und weniger über die Zeit, die nach ihnen kam. Und doch werden sie Propheten genannt.



VERDREHT (11)

Was die Leute immer so wissen wollen geht doch auf keine Kuhhaut: „Möchten Sie Männer über 50 kennenlernen, mit denen Sie Ihre Insassen teilen können?“ Auf gar keinen Fall!

Und solche, „mit denen Sie Ihre Interessen teilen können?“ Sowieso überhaupt nicht!



MEIN GEDICHT ‚MAGAZINE‘

jetzt auf y-tube, ein Ausschnitt aus meiner Lesung vom 15.5. für den Laden seiferei.noblogs.org in Augsburgs Grandhotel Cosmopolis, . Der zweite Mann mit der Maske ist Seyfi Meier, Kollektivist des im Grandhotel untergebrachten Shops, in dem die Produkte des griechischen Vimeo-Kollektivs verkauft werden. 2’05 exklusiv auf dem Literaturkanal Augsburg:

 



AN DER HUNDERTZEHNTEN

Bobby Womack, Across 110th Street (1973) | Circles Of Life In Harlem blieb ich wie vom Blitz getroffen stehen, als ich das Straßenschild mit der 110th sah, und dann fiel mir der Name einfach nicht ein, und eine halbe Stunde später, ich glaube, es war am Washington, sah ich ein paar Afrojungs mit einem Soundsystem rumstehen und ging zu ihnen und sagte, excuse me I have a question, und noch ehe ich meine Frage vorbringen konnte, starrten sie mich an, what the fuck?!, als wollte ich sie überfallen, I cannot remember who wrote and sang Across 110th Street, can you help me? Sie starrten mich weiter an, auch die, die hinter den DJs standen, hell, was war das denn für ein behämmerter Trick, ehe einer endlich im Umdrehen Bobby Womack sagte und ich wieder abziehen konnte … Der Titeltrack wurde dann für Jackie Brown wieder aufgebaut, und ich hatte dann auch ein explizites Remake in meinem Roman Ein Schlag ins Gesicht, den ich vor meinem konsternierten Blick auf das Straßenschild in Harlem geschrieben hatte, und auch Nina Grosse – das darf ich hier schon mal verraten – hat in ihrer Verfilmung Nicht tot zu kriegen eine wunderbare und deutliche Anspielung, die bei der Ausstrahlung im August von ein paar Leute erkannt werden wird, wenn auch nicht von den Jungs mit dem Soundsystem, die bei leichtem Regen am Washington überlegten, ob sie anfangen, abwarten oder die Sache vergessen sollten.



ICH LESE ÜBER ARBEIT, MIGRATION UND ANDERE VERBRECHEN

und man kann sich das am 27.5., Mittwoch um 19.30 im Stream der Club & Kulturkommission Augsburg e.V.: www.clubundkultur.tv  ansehen und -hören. Auf Einladung der SEIFEREI, ein Solidaritätsunternehmen für die griechische, von Arbeiter*innen selbstverwaltete Firma VIOME: https://seiferei.noblogs.org/

Ich lese u.a. aus meinem letzten Roman „Ein Schuss ins Blaue“ und erstmals Gedichte aus dem Ende September bei Starfruit Publications erscheinenden Band „Ich will doch immer nur kriegen, was ich haben will“.

Hier der Trailer von Helena Gladen (der Mann an Maske 2 ist Moderator Seyfi Meier von der Seiferei):

Bild könnte enthalten: Text



AUS DEM TAGEBUCH EINES ÜBEREIFRIGEN MUSIKSTUDENTEN (16)

Around the World

in a Day Prince WEA 1985 Saigon Soul

Revival s/t Saigon Supersound2019 Ella elle l’aFrance

Galle Apache1987This Is LondonTheTimes Artpop1983 The

Song With No Name ShaneMacGowan and The Popes ZTT1994

Familia y Tradicion Santiago Jimenez Rounder 1989 New Orleans

Funk Vol. 3 Various Artists Soul Jazz 2013 Mzansi Music Various Art

ists Trikont 2004 Afro-Beat Soul Sisters The Lijadu Sisters At Afrodisia,

Nigeria 1976 – 79 Soul Jazz 2012 Mohamed Mounir s/t Monsun1989 Pico’s

Yodeling’Beat presents Rock’n‘Roll People Vol.3  Seychelles SpecialVarious

Artists  Schamoni 2014  Disco  Jazz  Rupa The Numero Company 2019 Songs

from the Kathmandu Valley Johannes Maria Haslinger Cico Beck Markus Acher 

Trikont  2019 TranceSiberia  Hulu Project  featuring Stepanida CCn’C 2001 Im Nin‘

Alu Ofra Haza Teldec 1988  The Best of Soapkills CrammedDiscs  2015 Mektubumu

buldun mu? Göksel Avrupa Müzik 2009 For Sale The Grexits Echokammer/Gutfeeling

2019  Suburban  Bukarest Various  Artists  Trikont  2004  Muzika  Za  gru Đorđe

Marjanović  u  Pratnji  Plavog  Ansambla  Produkcija  Gramofonskih Ploča Ra-

dio Televizije  Beograd  1960  Double – 50  Years in Jazz  Coco  Schumann

Trikont1997 Honky Tonkin‘ G.Rag&Die Landlergschwister Gutfeeling

2013 Kraut! Die innovativen Jahre des Krautrock 1968-1979

Teil 1  Norden  Various  Artists  Bear  Family  2020

Embryo 40 Embryo Trikont 2009

* * * * * * * * * * * *

In Memory of Achim Bergmann/Trikont (1943-2018) and Coco

Schumann/Guitar (1924-2018) and Christian Burchard/Embryo (1946-2018)



DIE GANZE WAHRHEIT ÜBER WIGLAF DROSTE

habe ich zum ersten Todestag meines Freundes am 15. Mai für die junge Welt ausgepackt. Morgen in der Zeitung. Kurz vor der Geisterstunde im Netz, in dem wir alle forever Gefangene sind:

https://www.jungewelt.de/artikel/378381.wiglaf-droste-so-gehts-weiter-sagte-er.html

Foto: Axel Martens / edition tiamat



MEINE REPORTAGE ÜBER EINE STARKE FRAU

und ihren starken Film morgen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung:

STARKE FRAUEN, HARTE ZEITEN

Nina Grosse verfilmt mit Iris Berben den Thriller Nicht tot zu kriegen. Nach dem Roman Ein Schlag ins Gesicht von Franz Dobler, der beim Dreh dabei war.

Die Tatsache, dass sich eine Geschichte in einem Genre bewegt, schließt die Weite überhaupt nicht aus. – Roland Klick

Buchdeckel „978-3-608-50216-9 klett-cotta-tropen, 2016

»Dobler gelingt es, die alten Noir-Gefühle Einsamkeit, Zartheit, Rauheit, Trauer und Glamour ganz akut zu machen, indem er alle Formen der Detektivgeschichte in neuem düsterem Glanz kombiniert und abmischt.« Tobias Gohlis, Die Zeit

»Sein Sound ist manchmal aggressiv, manchmal zermürbt, aber immer ganz eigen … Dobler schreibt Kriminalromane wie kein zweiter in Deutschland.« Marcus Müntefering, Spiegel Online

»Doblers unverwechselbarer Sound, die große Zuneigung zu seinen Figuren, der irrsinnige Humor: „Ein Schlag ins Gesicht“ ist mehr als nur ein kleiner, verschrobener und finsterer Kriminalroman. Es ist ein großes, verschrobenes und finsteres Stück Literatur.« Martin Becker, Deutschlandradio Kultur

»Eine berührend abgründige Liebesgeschichte: Zwei einsame, irgendwie aus der Zeit gefallene Eigensinnler kommen einander näher. Weil sie sonst niemanden haben. Alles weitere ist Atmosphäre – grimmige Bahnhofskino-Neo-Noir-Romantik – und Sprache. Doblers Dialoge sind Geschenk, seine Schilderungen Gedicht.« Tiroler Tageszeitung

»Großartig schrauben sich die Dialoge über die Seiten, zwanglos redet man aneinander vorbei und aufeinander zu, quatscht und streut lässig Erkenntnisperlen, Bermerkungen über Filme und Musik …« Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau



ZUR FEIER DES SIEGES DER ALLIIERTEN ÜBER DEUTSCHLAND

vor 75 Jahren habe ich für das Magazin a3kultur (mit Betonung auf die US-Armee, die in Augsburg einfuhr) dies geschrieben:

MERCI MERCI MERCI

Als ich geboren wurde, hatten die US-Streitkräfte seit über vier Jahren Bayern weitgehend wieder seinem Schicksal überlassen, aber die Spuren und Einflüsse in der ehemaligen amerikanischen Besatzungszone waren zum Glück auch weiterhin so stark, dass ich extrem amerikanifiziert wurde, obwohl meine Eltern das in keinster Weise unterstützten. Alles Angloamerikanische war für sie und wahrscheinlich den allergrößten Teil der Erwachsenen in meiner Umgebung ein Angriff auf ihre bayerische Welt – für mich aber tatsächlich eine Befreiung.

Ich möchte mir nicht vorstellen, was aus mir ohne diesen Einfluss geworden wäre – weiß der Teufel – ich weiß es nicht und will´s nicht wissen.

Deshalb bin ich den Amerikanern dermaßen dankbar, dass ich das hier so pauschal sagen kann, ohne das jetzt mit irgendwas zu relativieren. Es gibt nur eine Sache, die ich ihnen vorwerfe: Sie haben die Entnazifizierung nicht mit aller Konsequenz durchgezogen. Und selbst das ist weniger ein Vorwurf, sondern vor allem Selbstmitleid. Die US- und die anderen Streitkräfte der Alliierten hatten ja genug bezahlt, um die Kapitulation Deutschlands zu erkämpfen und die Nazi-Opfer zu befreien.

Um es mit Cannonball Adderley zu sagen: Merci, merci, merci.



NEUES VOM MANN DER MIT DEN PFLANZEN SPRICHT

ist mein neustes Gedicht aus der Fabrikationsserie „Songs The Lord Taught Us“, die mir in einer Zeit, an die ich mich nicht erinnern kann, von The Cramps implantiert wurde, und das gestern in der jungen Welt auf der passenden Station „Lyrische Hausapotheke“ erschien:

https://www.jungewelt.de/artikel/378110.neues-vom-mann-der-mit-den-pflanzen-spricht.html